Klima – eine neue Perspektive
Kapitel
Kapitel 2: Jenseits von Klima-Fundamentalismus
Schnell eine Ursache finden
„Diese Flussmündung war voll mit Seetang und Aalen als wir Kinder waren,“ sagte Stella. „Sie war voll mit allen möglichen Tieren: Krabben, Muscheln, Pfeilschwanzkrebsen – gleich da drüben lag eine Muschelbank. Einmal schwamm ich dort um die Ecke und sah mich plötzlich Aug in Aug mit einem Aal.“
Das erzählte mir meine Frau, als wir die Mündung des Narrow River in die Narragansett Bucht in Rhode Island besuchten, einen der Lieblingsplätze ihrer Kindheit. Eine malerische Gegend, von Bäumen und Sandstränden umgeben. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass das ein ernsthaft bedrohtes Ökosystem ist, hätte Stella mir nicht davon berichtet, wie es dort früher einmal ausgesehen hat.
Keiner von uns weiß, warum die Aale verschwunden sind. Wir teilten einen Moment der Trauer. Dann erinnerte sich Stella an etwas, das die Sache erklären könnte. Sie und ihre Freundin Beverly unternahmen an diesem Strand manchmal eine „Rettungsmission“, so nannten sie das. Gruppen von streunenden Jungen machten sich einen Spaß daraus, alle Pfeilschwanzkrebse, die an Land gekrabbelt waren, auf den Rücken zu drehen und hilflos sterben zu lassen. Stella und Beverly drehten sie wieder auf den Bauch. „Wer immer das tat hatte überhaupt keinen Grund dazu,“ sagte sie. „Das war sinnloses Töten.“
Solche Erzählungen geben mir das Gefühl auf dem falschen Planeten gelandet zu sein.
Bei unserem Besuch sahen wir keinen einzigen Pfeilschwanzkrebs. Sie sind hier eine Seltenheit geworden. Ich weiß nicht ob das daran liegt, dass die Leute zu viele von ihnen umgebracht haben, oder weil wir zu viel von ihrem Blut für die Gewinnung von Hämocyanin „ernten“. Vielleicht liegt es am allgemeinen Niedergang des Ökosystems, oder am Eintrag von Pestiziden und anderen Chemikalien aus der Landwirtschaft, an der Flächenentwicklung, an Medikamentenrückständen, an durch die Entwicklung oder den Klimawandel veränderten Niederschlagsmustern… Vielleicht sind die Pfeilschwanzkrebse dafür anfällig, oder vielleicht sind es ihre Futtertiere, oder vielleicht ist das schwächste Glied eine Molluske, die eine Rolle im Lebenszyklus eines Mikroorganismus spielt, der einen anderen Mikroorganismus in Schach hält, der die Pfeilschwanzkrebse infiziert.
Ich bin ziemlich sicher, dass, was immer die wissenschaftliche Erklärung für das Aussterben der Pfeilschwanzkrebse und Aale sein mag, der wahre Grund das sinnlose Töten ist, von dem Stella erzählte. Gar nicht einmal so sehr das Töten meine ich, sondern vor allem seine Sinnlosigkeit – unsere Empfindsamkeit ist betäubt, unsere Empathie verkümmert. Wir fühlen nicht, was wir tun.
Die Krabben und der Seetang und die Aale – sie alle sind verschwunden. Der Verstand forscht nach der Ursache, um zu begreifen, um den Schuldigen zu identifizieren und die Sache dann in Ordnung zu bringen. Aber in einem komplexen, nicht-linearen System ist es oft unmöglich eine einzige Ursache zu identifizieren.
Diese Eigenschaft komplexer Systeme kollidiert mit unserer allgemeinen Herangehensweise an Probleme: zuerst die Ursache, den Schuldigen, den Keim, den Schädling, den Übeltäter, die Krankheit, die falsche Idee oder die schlechte Charaktereigenschaft identifizieren, und dann diesen Schuldigen unschädlich machen oder vernichten. Problem: Verbrechen, Lösung: die Verbrecher einsperren; Problem: Terrorismus, Lösung: die Terroristen töten; Problem: Immigration, Lösung: die Einwanderer aussperren; Problem: Borreliose, Lösung: den Krankheitserreger identifizieren und eine Möglichkeit finden, ihn zu töten; Problem: Rassismus, Lösung: die Rassisten anprangern und rassistisches Handeln verbieten; Problem: Unwissen, Lösung: Bildung; Problem: Waffengewalt, Lösung: die Waffen kontrollieren; Problem: Klimawandel, Lösung: die CO2-Emissionen reduzieren; Problem: Fettleibigkeit, Lösung: weniger essen und mehr Kalorien verbrennen…
An diesen Beispielen können Sie sehen, wie reduktionistisches Denken das gesamte politische Spektrum – oder zumindest sicher den liberalen und konservativen Mainstream – durchzieht. Ist die unmittelbare Ursache nicht offensichtlich, fühlen wir uns unwohl; oft so unwohl, dass wir einen halbwegs logischen Kandidaten für „die“ Ursache ausfindig machen und dann gegen diesen unseren Krieg führen. Die Häufung von Amokläufen in Amerika ist ein gutes Beispiel. Die Liberalen machen den Waffenbesitz dafür verantwortlich und fordern mehr Kontrolle; die Konservativen beschuldigen den Islam, Immigranten oder Black Lives Matter und fordern hartes Durchgreifen gegen diese Gruppen. Und naturgemäß lieben es die beiden Seiten besonders, einander gegenseitig die Schuld zuzuschieben.
Oberflächlich betrachtet ist klar, dass es ohne Waffen keine Amokläufe geben kann, so wie es offensichtlich ist, dass der Zugang der Zivilbevölkerung zu militärischen Sturmgewehren diese Amokläufe tödlicher macht. Dennoch geht man durch die Schwerpunktsetzung auf die Verfügbarkeit von Waffen weit besorgniserregenderen Fragen, für die es keine einfachen Lösungen gibt, aus dem Weg. Woher kommen dieser ganze Hass und diese Wut? Welche gesellschaftlichen Zustände liegen ihnen zugrunde? Die aufgebrachte Debatte über strengere Kontrolle von Waffenbesitz monopolisiert die politische Aufmerksamkeit in den USA, und diese anderen Fragen fristen ein kaum beachtetes Dasein an den intellektuellen Rändern. Wenn wir jene Fragen nicht beantworten, was hilft es dann die Waffen wegzunehmen? Jemand könnte eine Bombe bauen oder einen LKW kapern oder Gift verwenden… Ist dann die Lösung eine komplette Einschränkung der Bevölkerung, allgegenwärtige und immer noch weiter zunehmende Überwachung, Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen? Das war der gängige Lösungsansatz seit ich denken kann, aber mir wäre nicht aufgefallen, dass sich die Leute heute um einen Deut sicherer fühlen.
Vielleicht ist das, was uns angesichts der gegenwärtigen mannigfaltigen Krisen bevorsteht, der Zusammenbruch unserer allgemeinen Strategie zur Problemlösung, die ihrerseits auf der Geschichte von der Separation beruht.
Die absterbende Flussmündung zeigte mir meinen eigenen Impuls auf, gleich nach einem Schuldigen zu suchen. Ich wollte jemanden finden, den ich hassen und etwas, das ich beschuldigen konnte. Wäre es doch nur so einfach unsere Probleme zu lösen! Könnten wir doch ein Ding als die Ursache identifizieren! Die Lösung läge auf der Hand. Aber was bequem ist, ist nicht immer gut. Was, wenn die Ursache aus tausend zusammenhängenden Dingen besteht, und wenn wir alle und unsere Lebensweisen dabei auch eine Rolle spielen? Was, wenn die Ursache so allumfassend und so mit dem Leben, wie wir es kennen, verflochten ist, dass wir schlicht nicht mehr wissen, was wir tun sollen, wenn uns dämmert, wie gigantisch ihr Ausmaß ist?
Dieser Moment, dieses bescheidene, ohnmächtige nicht-Wissen, in dem uns die Trauer über einen fortschreitenden Verlust durchströmt und wir uns nicht mit simplen technischen Lösungen aus dem Staub machen können, ist ein kraftvoller und notwendiger Moment. Er hat die Kraft, uns tief genug zu erschüttern, dass wir unsere versteinerten Sichtweisen und eingefleischten Reaktionsmuster durchbrechen. Er schenkt uns einen neuen Blick, und er lockert den Würgegriff der Angst, die uns in unserem Alltag hält. Fertige Lösungen sind wie eine Narkose: Sie lenken vom Schmerz ab, aber sie heilen die Wunde nicht.
Ihnen ist dieser betäubende Effekt vielleicht aufgefallen, wenn man sich allzu schnell flüchtet in ein: „Tun wir etwas dagegen!“ Natürlich gibt es Fälle, in denen Ursache und Wirkung einfach und offensichtlich sind und wir genau wissen, was zu tun ist. Dann ist die rasche Lösung die richtige. Wenn du dir einen Splitter eingetreten hast, ziehe ihn heraus. Aber die meisten Situationen sind komplizierter, auch die ökologische Krise des Planeten. Dann verhindert unsere Gewohnheit, uns schnell auf die bequemste, oberflächlich offensichtliche Ursache zu stürzen, eine sinnvollere Reaktion. Sie verhindert, dass wir tiefer graben, und tiefer und noch tiefer.
Was steht hinter der herzlosen Grausamkeit der Pfeilschwanzkrebs-auf-den-Rücken-Dreher? Was steht hinter der massiven Verwendung von Chemikalien für den Rasen? Was steht hinter den riesigen Vorort-Luxusvillen, der industriellen chemischen Landwirtschaft und der Überfischung der Küstengewässer? Damit kommen wir zu den grundlegenden Systemen, Geschichten und psychologischen Strukturen unserer Zivilisation.
Behaupte ich, man solle nie unvermittelt in ökonomische und politische Zusammenhänge eingreifen, weil die systemischen Wurzeln schließlich unergründlich tief liegen? Nein. Das Nichtwissen, unsere Ratlosigkeit und unsere Trauer bringen uns in einen Zustand, in dem wir auf mehreren Ebenen zugleich handeln können, weil wir jede Ursache in einem größeren Zusammenhang sehen und uns nicht auf falsche einfache Lösungen stürzen.