Klima – eine neue Perspektive
Kapitel
Kapitel 6: Ein Pakt mit dem Teufel
Die Kommerzialisierung der Natur
Stellen Sie sich einen Moment lang vor, ich hätte Macht über Ihr Leben und Sterben. Sollte ich Ihr Leben verschonen, weil sie mir lebend mehr nutzen als tot? Sie könnten Glück haben, wenn es so ist, aber Sie können sich nicht sicher sein; was, wenn sich die Situation ändert? Was geschieht, wenn Sie für mich nicht mehr wertvoll sind?
Keine eitle Spekulation. Auf globaler Ebene fließen lebensspendende Ressourcen jenen zu, die für die globale Wirtschaft wichtig sind. Diejenigen, deren Beitrag nicht in vermarktbare Produkte und Dienstleistungen umsetzbar sind, tun sich mit dem Überleben schwer. In konventionellen Wirtschaftsbegriffen gesehen sind sie tatsächlich lebend nicht wertvoller als tot, und das betrifft immer mehr. Nur wenn wir sie aus nicht-finanzieller Perspektive betrachten, sind sie genauso viel wert wie alle anderen.[1]
Die Einzigartigkeit und Heiligkeit jedes Wesens geht verloren, wenn man es auf eine Zahlenkolonne reduziert.
Die daraus resultierende Herabsetzung sieht man im Extremfall Menschenhandel besonders deutlich, aber auch wir erleben sie in abgeschwächter Form, wenn wir in die Rolle des Arbeitnehmers oder der Konsumentin schlüpfen. Werden wir nach unserem Geldwert beurteilt, geht es nicht mehr um unser Wohlergehen, sofern dieses nicht unseren Wert beeinträchtigt. Diese Logik zeigt sich, wenn für Arbeitnehmergesundheitsprogramme mit dem Argument geworben wird, dass gesündere Arbeitnehmer weniger Kosten verursachen. Gut. Und was geschieht, wenn die Kosten höher als der Nutzen von besserer Gesundheit sind? Dann gilt nach eben derselben Logik: Opfern wir die Gesundheit. Das ist genau das, was passiert, wenn eine Firma eine Gesundheitsgefahr entdeckt, deren Behebung zu teuer wäre. „Wir lassen es schleifen.“
Können wir bitte endlich verstehen, dass das die Revolution ist: alle Wesen um ihrer selbst willen zu lieben und nicht wegen ihrer Nützlichkeit? Wenn wir uns dem öffnen, wird sich nicht nur unsere Beziehung zur Natur ändern, sondern auch unser Wirtschaftssystem, welches auf eben dieser Ausbeutung von Menschen für Profit, also aufgrund ihrer Nützlichkeit, basiert. Es gefällt Ihnen wahrscheinlich nicht, dass man Sie so behandelt: als ein Instrument für das Eigeninteresse eines anderen, als Konsument oder als Arbeitnehmerin, deren Wert auf Null fällt, sobald Ihr Geld oder Ihre Arbeitskraft erschöpft sind. Den Geschöpfen der Natur gefällt es ebenfalls nicht. Alle Äußerungen der ausbeuterischen Geisteshaltung müssen sich gleichzeitig ändern, denn eine jede spiegelt und stützt die anderen. Darum sind alle heute in Gang befindlichen Revolutionen ein und dieselbe Revolution.
Wie beim Menschenhandel, so bei der Kommerzialisierung der Natur. Wie die wirtschaftliche und politische Logik die Menschen behandelt, erlaubt auch die Kohlenstoffbilanzierung zu sagen: „Dieses Land ist wichtiger als jenes Land. Diese Art ist wertvoller als jene Art.“ Im nächsten Schritt werden natürlich, den Zahlen folgend, jene geopfert, die weniger wertvoll sind.
Quantifizierung und Monetarisierung gehen Hand in Hand. Wenn man etwas nach einem Maßstab beurteilt hat, kann man es leicht in ein anderes Maß übertragen: Geld. Wenn wir einmal Umweltschutz mit niedrigem Kohlendioxid gleichgesetzt haben, können wir für Kohlendioxid einen Preis festlegen, um Umweltschutz mit Geld zur Deckung zu bringen. Das ist die zugrunde liegende Logik von Plänen zur „Monetarisierung von Ökosystemdienstleistungen“.
Das ist auch die Logik eines Genres umweltfreundlicher Schriften, für die beispielhaft ein Titelzusatz in Scientific American steht: „Fische ersparen der Welt milliardenschwere Schäden, indem sie Kohlendioxid in den Meeren speichern“.[2] Der Artikel beschreibt eine Studie, die zeigt, dass Hochseefische 74 bis 220 Milliarden Dollar an Klimawandelschäden pro Jahr verhindern. Das ist sehr viel mehr als der Wirtschaftswert der Fischereiindustrie. Darum, so schließt der Aufsatz, sollten wir unsere Fischereirichtlinien ändern.
Gut für die Fische, dass sie uns Geld sparen. Gut für die Arbeitnehmer, dass sie gesund profitabler sind als krank. Gut für die Honigbienen, dass sie wirtschaftlich so wertvolle Dienste leisten. Aber zu schade für alle anderen und alles andere, dessen Wert nach unserem Maßstab niedriger angesetzt wurde.
Kennen Sie das Gefühl der Verzauberung, wenn man einen seltenen Vogel sieht oder einem Tier nahekommt, wenn man einen Adler über dem Wasser sieht oder einen ausblasenden Wal im Meer? Können Sie in Zahlen ausdrücken, um wie viel ärmer Sie ohne diese Tiere wären? Kommen Sie schon! Nennen Sie mir eine Zahl! Dann wissen wir, ob sie es wert sind, geschützt zu werden.
Falls Sie sich gefragt haben, ob die Meere es wert sind, geschützt zu werden, hat der WWF ihnen freundlicherweise einen Wert zugeschrieben: vierundzwanzig Billionen US-Dollar.[3] Zweifellos versucht man, ökonomische Anreize mit einem gesunden Ökosystem in Übereinstimmung zu bringen; ein lobenswerter Beweggrund. Denken Sie allerdings einen Moment darüber nach, welcher Geisteshaltung diese Art Bewertung in die Hände spielt. Sie besagt:
- dass Geld eine geeignete Methode sei, den Wert von etwas wie Ozeanen festzulegen;
- dass wir Entscheidungen über den Planeten aufgrund der vorhersehbaren finanziellen Gewinne bzw. Verluste treffen können und sollten; und darum,
- dass, wenn wir mehr als 24 Billionen Dollar (sagen wir 48 Billionen) mit der Zerstörung der Meere machen könnten, wir es tun sollten;
- dass es möglich sei, den Beitrag der Ozeane zum Wohlergehen der Menschen überhaupt vorherzusehen und zu beziffern, dass also unser Wissen ausreiche, um diese Bewertung überhaupt vornehmen zu können;
- dass man die Meere vom Rest des Planeten trennen könne, als ob sie eine Zeile in einer Tabelle wären, die mit allem anderen nichts zu tun hat;
- dass man Entscheidungen über die Meere aufgrund der Folgen für die Menschen treffen könne, als ob die Ozeane selbst und alles, was in ihnen lebt, keinen eigenen Wert hätten und nur ihr ökonomischer Wert, ihr Nutzen für uns zählte.
Diese Haltung ist ganz klar Teil des Problems. Wir vermüllen die Meere genau jetzt, in diesem Moment, aus finanziellen Gründen. Ich habe keine Ahnung, wie viele Billionen Dollar wir im Zuge dessen machen, aber wenn ich von zehntausend Seehunden lese, die tot auf Kaliforniens Stränden angespült werden, oder hunderten von gestrandeten Walen in Neuseeland oder Seevögeln, die an Plastik ersticken, oder schwindenden Korallenriffen, dann weiß ich, dass unabhängig davon, wie viel wir verdienen, es nie genug sein wird.
Wir müssen begreifen, dass manche Dinge nicht messbar aber unbezahlbar sind. Das steht im Widerspruch zur herrschenden Ideologie unserer Zeit: die Wissenschaft behauptet, dass nichts unmessbar sei; die Ökonomie behauptet, dass alles einen Preis habe. Daher haben wir (die vorherrschende Kultur) geglaubt, dass wir mit immer umfangreicheren und genaueren Zahlen als Grundlage für unsere Technologie die Welt bezwingen könnten, und dass wir mit der größtmöglichen Ausdehnung der Märkte am effizientesten den größtmöglichen Wohlstand produzieren würden.
Wenn unsere Kontrolltechnologien mächtiger und präziser werden, warum scheint die Welt dann außer Kontrolle zu geraten? Wenn das globale Sozialprodukt neue Rekordhöhen erreicht, warum erleben wir dann immer mehr Armut – eine Armut, von der selbst die finanziell Reichen nicht ausgenommen sind? Weil in unseren Berechnungen etwas fehlt: das schwer Messbare und das Unmessbare, wie beispielsweise Schönheit, Freude, Leid, Sinn, Schmerz, Heiligkeit, Erfüllung, Spiel… und der Anblick von Robben auf einem Strand, selbst wenn sie zu sonst nichts zu gebrauchen wären. Aber das ist es, was das Leben reich macht.
Ironischerweise nützt die Geisteshaltung des instrumentellen Nutzens, also die Beurteilung aller Dinge nach ihrem Nutzen für uns, nicht einmal uns selbst. Innerhalb der Geschichte von der Separation ist das schwer erklärlich, außer vielleicht zu sagen, wir müssen uns eben noch mehr anstrengen, wir müssen die Welt schlauer ausbeuten, nicht so kurzsichtig wie jetzt. In der Geschichte vom Interbeing aber ist der Grund offensichtlich: In einer Welt der innigen Beziehungen bedeutet Schaden für Eines Schaden für alle. Unsere Kontrollversuche werden stets an Grenzen stoßen; unsere Vermessungs- und Vorhersagebemühungen werden nie perfekt sein. Zahlen haben ihren Platz, aber wenn wir jene Dinge auf dem Planeten bewahren wollen, die unbezahlbar sind, können wir das nicht der Mathematik überlassen. Wir können uns nicht zu Mitgefühl zwingen, indem wir uns gegenseitig Angst einjagen und darauf hoffen, dass die korrekte Bezifferung der Folgen uns davon abhält, weiteren Schaden anzurichten. (Denn Sorge um das Eigeninteresse ist es ja, die das Mitgefühl verhindert.) Wir können uns auch nicht zur Liebe bestechen, hoffend, dass wir uns irgendwann um unsere Meere kümmern werden, sobald wir erkennen, wie viel Geld sie uns sparen. Der geldorientierte Geist wird uns nicht vor den Zerstörungen bewahren, die der geldorientierte Geist anrichtet.
Wenn wir den Nutzen betonen, um Nachhaltigkeit zu erreichen, bestätigen wir damit implizit, dass es ganz normal und richtig sei, Entscheidungen aufgrund von Nützlichkeit zu treffen. Das ist kontraproduktiv, weil meistens der berechenbare unmittelbare Nutzen für uns, egal ob in der Rolle eines Unternehmens oder als Konsumenten, den Planeten schädigt. Das Eigeninteresse, wie es von unserer Kultur konstruiert worden ist, sagt der Bergbaugesellschaft: „Mach aus dem Wald einen Tagebau.“ Es sagt zu Ihnen: „Kaufen Sie das Smartphone mit den Mineralien aus dem Tagebau.“ Es sagt vielleicht, wir könnten anderswo einen neuen Wald pflanzen, um die verlorene CO2-Senke zu ersetzen. Es verleitet uns außerdem dazu, mit der Ausbeutung einfach weiterzumachen, denn es hilft meinem Eigennutz wirklich mehr, wenn jemand anderes – nicht ich – auf Mineralien, Profite oder sein Smartphone verzichtet.
Wie viel müsste ich Ihnen für die Abholzung eines Waldes bezahlen, der Ihnen heilig ist? Kein Betrag wäre hoch genug, so wie Ihnen auch kein Betrag hoch genug wäre, als dass Sie Ihre Mutter oder Ihr Kind der Vernichtung übereignen. Wenn wir den Wert eines Waldes oder sonstigen Ökosystems in CO2-Sequestrierung übersetzen, besteht sein Wert nur in dieser einen endlichen Zahl. Der Wald wird entbehrlich, wenn man ihn mit etwas Wertvollerem ersetzen kann.
Bestenfalls ermöglichen finanzielle Argumente den (inneren und äußeren) Erbsenzählern, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen und uns die Erlaubnis zu geben, aus Liebe für die Erde zu handeln: „Das geht in Ordnung. Es rentiert sich ja auch wirtschaftlich.“ Unglücklicherweise sorgen sie auch für den Fortbestand der Idee, dass das Ökosystem im Grunde ein „Dienstleister“ sei; dass uns der Planet gehöre und wegen seines Nutzens für uns von Wert sei, nicht aus eigenem Recht. Die ökologische Revolution muss tiefer greifen.
Anmerkungen
[1]Die konventionelle Wirtschaftstheorie setzt den ökonomischen Wert nach folgender Logik mit dem gesellschaftlichem Wert gleich: Jene, deren Beitrag gesucht und gebraucht wird, werden Menschen finden, die bereit sind, für diese Beiträge zu bezahlen. Jene, deren Beiträge nicht gebraucht werden, werden keinen Markt finden. Wer das meiste Geld verdient, tut das, weil er die größten Werte schafft. Die Schwäche dieser Argumentation erzeugt dieselben Probleme wie jedes andere quantitative Wertesystem: Die verwendeten Maße (Geld, Kohlendioxid…) sind oft ungeeignet oder unzureichend für die Bemessung des Werts.
[2]Harball (2014).
[3]Hoegh-Guldberg et al. (2015).