Klima – eine neue Perspektive
Kapitel
Kapitel 2: Jenseits von Klima-Fundamentalismus
Das soziale Klima
Obwohl für die meisten Umweltschützer auch soziale Gerechtigkeit ein ernstes Anliegen ist, vermittelt das Umweltschutz-Narrativ und besonders das Klima-Narrativ den Eindruck, soziale Anliegen wären angesichts der großen Mission zu Rettung des Planeten zweitrangig. Weiter oben bemerkte ich, dass die Art und Weise, wie hier Opfer für den Kampf gegen eine allumfassende Bedrohung eingefordert werden, exakt die gleiche ist wie in einer Kriegssituation, die dafür missbraucht wird, Bewegungen für soziale Gerechtigkeit außer Kraft zu setzen. „Hör auf zu quengeln! Weißt du nicht, dass wir im Krieg sind?“ Meine Mitarbeiterin Marie Goodwin fragte einmal einen bekannten Klimakämpfer: „Aber glauben Sie nicht, dass Gemeinschaftsbildung heute auch wichtig ist?“ Er antwortete: „Kaum. Wenn wir nicht alles, was wir haben, dafür einsetzen, den Klimawandel hier und jetzt zu stoppen, wird es keine Gemeinschaft mehr geben, die man bilden könnte.“ Dieses parallele Denkmuster zwischen Klimawandel und Krieg, schrieb ich, sollte uns aufhorchen lassen. Jetzt gehe ich einen Schritt weiter. Es ist nicht so, dass soziale Gerechtigkeit „auch“ wichtig ist (… aber nicht so wichtig wie die Rettung des Planeten). Heilung der Gesellschaft ist unverzichtbar für die Heilung der Natur.
Zuerst und ganz offensichtlich ist sie unverzichtbar, weil es schwer ist, anderen Liebe zu schenken, wenn man selbst furchtbar leidet. Wer selbst leidet, überträgt seinen Schmerz unweigerlich auch auf die, die er liebt. Jene, denen es besser geht als dem Alkoholiker, der seine Kinder misshandelt, glauben vielleicht, dass er seine Kinder weniger liebt als wir unsere. Dem ist nicht so. Wie mit dem Menschen, der sich und anderen Schmerzen zufügt, ist es auch mit der Gesellschaft. Wir können von einer unglücklichen, unterdrückten Bevölkerung nicht erwarten, dass sie sich für irgendetwas interessiert, das über ihr unmittelbares Überleben und ihre unmittelbare Sicherheit hinausgeht. Während die Armen durch reine Existenznot in einem Zustand von Überlebensangst gehalten werden, leiden die Reichen an einer anderen Art von Armut: dem Mangel an Gemeinschaft, Verbundenheit, Sinn und Vertrautheit, die zu massivem psychologischen Stress führen, auch wenn auf materieller Ebene mehr als genug da ist.
Das meiste menschliche Leid auf diesem Planeten rührt nicht von äußeren Schicksalsschlägen wie Unfällen und Naturkatastrophen her, sondern ist von Menschen selbst gemacht. Menschenhandel und Arbeit in Ausbeuterbetrieben, politische und häusliche Gewalt, Rassismus, Gewalt zwischen den Geschlechtern, Armut und Krieg – das alles hängt mit unseren Institutionen, unseren Wahrnehmungen und unseren Narrativen zusammen. Diese Narrative sind aus Trauma entstanden und erzeugen neue Traumata.
Hierin besteht eine Verbindung zwischen wirtschaftlicher Gerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit und der Umwelt. Wir werden unsere Mitgeschöpfe weiter missbrauchen, sogar unsere eigene Mutter Erde, solange wir ungeheilte soziale Traumata mit uns herumtragen. Das bedeutet nicht, dass wir zuerst unsere Traumata heilen sollen, bevor wir versuchen, die Umwelt zu heilen. Es geht darum zu erkennen, dass soziale Heilung und ökologische Heilung zusammengehören. Weder das eine noch das andere ist wichtiger; keines kann ohne das andere gelingen.
Nach dem Ursache-Wirkungsprinzip des Interbeing – der morphischen Resonanz – ist es leicht zu verstehen, dass eine Gesellschaft, die ihre verletzlichsten Mitglieder ausbeutet und missbraucht, auch die Natur ausbeutet und missbraucht. Wo man sich um verletzliche Menschen sorgt, entsteht ein Feld der Fürsorge, das es leichter macht, sich auch um andere verletzliche Wesen zu kümmern. Eine fürsorgliche Gesellschaft ist eine, in der es selbstverständlich ist zu fragen: „Wen haben wir vergessen? Wer leidet? Wessen Potential haben wir nicht erkannt? Wessen Bedürfnisse haben wir nicht berücksichtigt?“ Das sind Leitfragen, sowohl für eine ökologische Gesellschaft, als auch für eine gerechte Gesellschaft.
Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ könnte zu eng gefasst sein um die Formen von gesellschaftlicher Heilung zu beschreiben, die stattfinden müssen, damit wir fähig werden, unsere Liebe für den Planeten voll auszuleben. Traditionelles soziales Engagement gegen Rassismus, Armut, Ungerechtigkeit, Frauenfeindlichkeit usw. ist wichtig, aber es lässt Schlüsselinstitutionen wie das Bildungssystem, das Gesundheitssystem, das Geldsystem und das Eigentumssystem weitgehend unangetastet und fordert oft nur gleichen Zugang zu diesen Institutionen. Es ist eine ziemlich lauwarme Form von Aktivismus, für gleichen Zugang zu bestehenden Institutionen zu kämpfen, wenn diese inhärent repressiv sind, egal welcher Ethnie, welchem Geschlecht oder welcher sexuellen Orientierung ihre Klientel angehört.
Geht es Feministinnen darum, dass Frauen die gleichen Chancen haben sollen, zur Umweltverschmutzung im großen Maßstab beizutragen, Geschäftsführerinnen von räuberischen Investmentfirmen, Sweatshop-Besitzerinnen oder Immobilienhaie zu werden? Wollen die Aktivisten von Black Lives Matter, dass in einer auf Bestrafung ausgerichteten Wegsperrgesellschaft auch den Weißen der vorgezeichnete Karriereweg von der Schule direkt ins Gefängnis genauso offen steht wie den Schwarzen? Mir scheint, solange wir das jetzige System als gegeben hinnehmen, wäre die Antwort ja. Wenn wir die ungleiche Verteilung von Reichtum als gegeben hinnehmen, dann sollten selbstverständlich Menschen aller Ethnien die gleichen Chancen haben, sowohl der Elite als auch der Unterklasse anzugehören. Wenn wir eine globale Kriegsmaschinerie als gegeben hinnehmen, dann sollten Frauen wahrscheinlich genauso Generäle werden können wie Männer. Wenn wir eine Wirtschaft als gegeben hinnehmen, die den Planeten ruiniert, dann sollten Frauen, Homosexuelle, Schwarze, Behinderte und Transgender-Personen genauso willkommen sein, das Ruder zu übernehmen, wie weiße Männer.
Zwar würden die freien Medien sicher bestreiten, eine solche Haltung zu vertreten, aber jedes Mal, wenn sie eine Filmheldin feiern, die kräftig zuschlägt, oder besonders positiv hervorheben, dass schwarze, homosexuelle oder weibliche Menschen für hohe politische Positionen nominiert werden, tragen sie indirekt dazu bei. Die Vision der ursprünglichen Bewegungen für Frauenrechte oder die Rechte der Schwarzen ging darüber hinaus, lediglich Gleichheit im bestehenden System zu erreichen. Die Feministinnen wollten nicht den gleichen Status wie Männer in einem Patriarchat erreichen – sie wollten das ganze System transformieren. Bürgerrechtskämpfer wie Malcolm X und Martin Luther King Jr. wollten nicht nur, dass Afroamerikaner im US-Militär gleichbehandelt werden – sie wollten Militarismus und Imperialismus überhaupt abschaffen. Aber die heutigen verwässerten massenkompatiblen Versionen sowohl der Bürgerrechtsbewegung als auch des Feminismus beschränken sich auf ein blutleeres Ideal von Gleichheit: bestehende Machtpositionen sollen umbesetzt werden, aber die Strukturen selbst bleiben unangetastet. Sie scheinen nicht zu begreifen, dass es diese Strukturen sind, die Ungleichheit bedingen – sei sie nun entlang von Ethnie, Geschlecht oder irgendeinem anderen Unterscheidungsmerkmal definiert. Ein ausbeuterisches System braucht Menschen, die es ausbeuten kann. Rassistische Vorurteile, männlicher Chauvinismus, Nationalismus etc. ermöglichen und rechtfertigen ein solches System, aber nur gegen diese Formen von Engstirnigkeit anzukämpfen würde die zugrundeliegenden Mechanismen nicht verändern. Dann wäre eben nicht die eine, sondern eine andere Gruppe dran, ausgebeutet zu werden.
Ich nehme dieses Thema aus zwei Gründen in Augenschein. Erstens möchte ich klar machen, dass soziale Gerechtigkeit mehr sein muss als die übliche Wühlkiste von identitätspolitischen Streitereien. Die soziale Heilung, die wir brauchen, erfordert eine völlige Überholung – wahrscheinlich sogar die komplette Erneuerung – unserer Institutionen rund um Medizin, Erziehung, Geburt, Tod, Gesetz, Geld und Regierung. Zweitens betrifft dieses Muster, oberflächliche Veränderungen anzustreben, die die zugrundeliegenden Systeme unberührt lassen, den Umweltschutz genauso wie die soziale Gerechtigkeit. So ist es überhaupt möglich, dass ein Konzern schwarze, weibliche und LGBTQ-Führungskräfte in der Zentrale anstellt, um eine Lieferkette zu verwalten, durch die dunkelhäutige Menschen in Übersee-Fabriken ausgebeutet werden, und sich trotzdem für fortschrittlich hält. Genauso kann der Konzern seine CO2-Emissionen abschreiben, indem er in einen Fonds zur Wiederaufforstung einzahlt, zugleich Umwelt-toxische Produkte erzeugen, und sich trotzdem grün nennen.
Es geht nicht darum, die grünen Rechtfertigungen von Konzernen (oder Ihre oder meine) zu verurteilen. Ich möchte die fundamentalistische Geisteshaltung beleuchten, die solchen Maßnahmen zugrunde liegt. Fundamentalismus aller Ausprägungen ist die Loslösung von der Komplexität der realen Welt, und ich fürchte, dass er nicht nur in der Religion sondern in vielen Bereichen zunimmt. Ich sehe ihn auch in verschiedenen alternativmedizinischen Theorien, wenn die eine Ursache für alle Krankheiten offenbart wird. (Es sind Parasiten! Entzündung! Stress! Übersäuerung! Trauma!) Fundamentalismus schafft Sicherheit. Die Gedanken rasten in ein Schema aus wenigen vorgegebenen Bahnen ein. Wir stürzen uns auf die eine Ursache, nehmen Zuflucht zu unhinterfragten Glaubensgrundsätzen, aber das hilft uns nicht in einer Zeit, in der das vermeintlich sichere Wissen sich oft genug als trügerisch erweist.
Wenn wir mit unserem Klimafundamentalismus so weitermachen, wird sich das symptomatische Fieber namens Klimawandel nur verschlimmern, egal welche Maßnahmen wir auch ergreifen, um seine unmittelbaren Ursachen zu bekämpfen. Wir bringen die Zahlen (Temperatur, Treibhausgase…) vielleicht sogar herunter, aber wie bei einem Patienten, der zum Arzt kommt und gesagt bekommt: „Nach allen Untersuchungsergebnissen sind Sie gesund“, wird die Krankheit dort wieder ausbrechen, wo wir uns entscheiden, nicht zu messen, wo wir jetzt noch nicht messen können, oder dort, wo nicht gemessen werden kann. Wir müssen über die Symptome hinausgehen und das Fundament der ökologischen Gesundheit wiederherstellen: den Boden, das Wasser, die Bäume und Pilze, die Bakterien, jede Art und jedes Ökosystem und jede menschliche Kultur auf Erden.