Klima – eine neue Perspektive
Kapitel
Kapitel 2: Jenseits von Klima-Fundamentalismus
Die Ur-Ursache
Als ich nach der Ursache für das Aussterben in der Flussmündung fragte, mag Ihnen vielleicht eine Hypothese eingefallen sein: der Klimawandel, unser aktueller Lieblingsschuldiger für nahezu jedes Umweltproblem. Könnten wir ein Ding als Ursache identifizieren, die Lösung wäre um so vieles leichter zugänglich.
Während meiner Recherchen zu diesem Buch googelte ich „Auswirkung von Bodenerosion auf den Klimawandel,“ und die ersten zehn Ergebnisseiten handelten vom gegenteiligen Zusammenhang: der Auswirkung des Klimawandels auf Bodenerosion. Ich wiederholte die Suche für Biodiversität, wieder mit dem gleich Ergebnis. Ob der Klimawandel nun wirklich andere Umweltprobleme verschlimmert oder nicht, diese automatische Suche nach einer einzigen Ursache für ein komplexes Problem sollte uns zu denken geben. Das Muster ist bekannt: Es handelt sich ganz klar um Kriegslogik; auch sie beruht darauf, die eine Ursache für ein komplexes Problem zu identifizieren. Diese Ursache wird Feind genannt, und die Lösung besteht darin, den Feind zu besiegen.
CO2-Reduktionismus ist wie „Keimreduktionismus“ in der Medizin. Was ist die Ursache für, sagen wir, Halsentzündung? Nun, ganz klar sind das die Streptokokken, richtig? Problem: Bakterium, Lösung: Töte das Bakterium. Auf einer Ebene mag das richtig sein, aber schauen Sie mal, was diese Herangehensweise unsichtbar macht und weglässt. Erstens lässt sie die Frage aus, warum ein Mensch, der dem Bakterium ausgesetzt ist, krank wird und ein anderer nicht. Besonders wenn jemand immer wieder Halsentzündungen bekommt, könnte es sinnvoller sein, das Bakterium nicht als Ursache sondern als eines der Krankheitssymptome zu sehen. Mit dieser Herangehensweise ignoriert man auch die Folgen wiederholter Antibiotika-Behandlungen, und ob diese eventuell anfälliger für eine erneute Infektion machen. (Das ist angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Beziehung zwischen der Körperflora und dem Immunsystem keine reine Spekulation. Unsere Körperflora – dazu gehört auch eine gesunde Darmflora – wird durch Antibiotika ernsthaft angegriffen.)
In der Medizin kann das Fokussieren auf eine unmittelbare, lineare Krankheitsursache eine wirkliche Genesung behindern, sowohl auf individueller als auch auf epidemiologischer Ebene. Nehmen Sie eine Krankheit, die unser kollektives Bewusstsein viel stärker belastet als Halsentzündung: die Borreliose. Wenn man sie als eine Infektion durch Spirochäten sieht, die von Zecken übertragen werden, sind die geeigneten Methoden zur Bekämpfung klar: Vermeide oder töte Zecken und merze das Bakterium aus. Betrachtet man das Problem aus einem anderen Blickwinkel, kann das sehr unbequem oder störend für die Systeme werden, in die unsere automatischen kontrollbasierten Reaktionen eingebettet sind. Was ist die wirkliche „Ursache“ für Borreliose? Ich weiß es nicht, aber sie könnte mit dem Folgenden zu tun haben:
- mit einem geschwächten Immunsystem, das den Körper anfällig für verschiedene virale Koinfektionen macht (gegen die Antibiotika wirkungslos sind);
- mit der explosionsartigen Zunahme von Zecken-Populationen, weil tiefe Wälder durch die zunehmende Zersiedlung der Landschaft verschwinden;
- mit stark zunehmenden Wildpopulationen aufgrund der Ausrottung von Wölfen und Wildkatzen;
- mit der abnehmenden Waldgesundheit und der Zerstörung von Unterholz durch Verschmutzung, wiederholtes Abholzen und auch hier durch die Ausrottung von Raubtieren (Wild zerstört das Unterholz, wenn die Population ohne Raubtiere zu groß wird), was wieder das ökologische Gleichgewicht durcheinanderbringt und die unkontrollierte Vermehrung mancher Arten wie der Zecken ermöglicht;
- mit dem Verschwinden von Fasanen und anderen Vögeln, die Zecken fressen, weil sie schon lange zu viel gejagt und auf den Straßen überfahren werden, oder weil das Unterholz zerstört wird;
- mit den Insektiziden, die über weite Flächen versprüht werden, um Schwammspinner-Raupen und andere Insekten unter Kontrolle zu halten, wodurch insektenfressende Vögel dezimiert werden;
- mit der abstrakten modernen Angst vor der Natur, die hier einen Niederschlag findet. Es ist, als antwortete die Natur darauf, dass wir unsere Kinder vor ihr in Sicherheit bringen und drinnen einsperren; als sagte die Natur jetzt: „Okay, dann gebe ich euch etwas, vor dem ihr euch zu Recht fürchten könnt.“
Wir könnten tiefer und tiefer graben. Was ist die Ursache für Zersiedelung? Was ist die Ursache für Umweltverschmutzung? Welche Mentalität steht dahinter, wenn Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette ausgerottet und Insektizide in den Wäldern versprüht werden? Komplexe, nicht-lineare kausale Beziehungen verbinden diese Phänomene. Zum Beispiel wird die Natur idealisiert, was wiederum die Zersiedelung fördert. Aber ohne direkten Bezug zum Land wird ein Vorstadtbewohner, der Nahrungsmittel kauft, die tausende Kilometer weit weg angebaut wurden, und der keinen Fuß auf die nackte Erde setzen muss, um sich von hier nach dort zu bewegen, die Natur als eine Kulisse oder als Bedrohung sehen.
Man könnte sogar sagen, dass die „Ursache“ für Borreliose alles und jedes ist. Selbst der Ausdruck „die Ursache“ ist Teil des Problems, weil er suggeriert, dass es möglich wäre, Phänomene, die zugleich und in wechselseitiger Abhängigkeit auftreten, voneinander zu trennen. Ich könnte sogar behaupten, dass die Ursache der Borreliose die modernen Kinderbücher sind, die uns von klein auf anthropomorphe Tiere zeigen, die menschliche Kleider tragen, ein Leben wie Menschen führen und wie Menschen denken. Solche Bücher verleiten uns dazu, andere Lebewesen nur nach unseren Maßstäben zu sehen, nicht in einer ihnen gemäßen Weise, und sie verschleiern, dass das menschliche Alltagsleben, das die Tiere in den Geschichten nachspielen, die echten Lebensräume dieser Tiere in der realen Welt zerstört.
Ich behaupte nicht, man sollte niemals eine offensichtliche, lineare Ursache anpacken, genauso wie ich auch nicht behaupte, dass es nicht manchmal an der Zeit ist zu kämpfen. Ich warne aber vor der Gewohnheit, auf alle Probleme so zu reagieren.
In der Ökologie, bei der es um die Erforschung von Beziehungen und nicht von Dingen geht, ist jede Ursache gleichzeitig ein Symptom. Nehmen wir zum Beispiel das rasche Verschwinden von Seetangwäldern – Biotopen mit großem Artenreichtum, die mehr CO2 pro Hektar speichern als fast jedes andere Ökosystem. Das Absterben von Seetang führt zu Kohlenstoffverlust und Versauerung und ist ein Symptom von:
- der zu starken Vermehrung von pflanzenfressenden Mollusken und Krustentieren durch die Überfischung größerer Raubfische;
- Nährstoffeintrag und Algenblüten durch den Abfluss überschüssigen Wassers aus der Landwirtschaft;
- fehlendem Sonnenlicht für den Tangwald durch hohe Mengen an Schlamm, einer Folge der Bodenerosion, die wiederum eine Konsequenz moderner landwirtschaftlicher Praktiken, Abholzung und Entwicklung ist.
Einem Freund zufolge, der mit „Bootsleuten“ (vor allem Krabbenfischern) in der Chesapeake Bucht arbeitet, kommt es immer nach einem Hurrikan oder nach starkem Zufluss von sedimentreichem Frischwasser in die Bucht zu einem massiven Sterben von Seetang, Schalentieren und Krabben. Diese unregelmäßigen Störungen machen die Ökosysteme noch anfälliger. Nun, das war vor wenigen Jahrhunderten kein großes Problem, weil:
- intakte Schwemmgebiete massive Regenmengen aufnehmen konnten;
- Biberdämme entlang der kleinen Zuflüsse in die Bucht das Wasser verlangsamten und Sedimente abfingen;
- damals noch nicht durch Abholzung und Ackerbau die ungeschützte Humusschicht der Erosion preisgegeben war.
Klar, dass der Schutz und die Wiederaufforstung von Seetangwäldern mehr braucht als nur das Einhegen von Schutzgebieten, weil Seetang in Beziehung mit allem anderen Lebendigen steht, uns selbst mit eingeschlossen. Die normale Strategie – „Findet den Feind!“ – wird den Seetang auch nicht retten. Es ist verlockend und bequem „häufigere vom Klimawandel verursachte starke Wirbelstürme“ als Ursache zu benennen und den ganzen Problemkomplex, der uns selbst und unsere Lebensweise unmittelbar miteinbezieht, zu ignorieren. Es ist auch einfacher, die Krabbenfischer zu beschuldigen und ihnen Habgier zu unterstellen, und dabei die komplexen wirtschaftlichen Ursachen (bei denen wiederum wir mit eine Rolle spielen) zu ignorieren, die die unerbittliche Umwandlung von Natur in Waren in Geld antreiben.
Intellektuell sind wir gewöhnt, die eine Ursache zu finden, wissenschaftlich sind wir darauf programmiert, diese zu messen, und unser politisches Getriebe soll sie bekämpfen. Wenn die eine Ursache global ist, hoffen wir das Beste und delegieren die Verantwortung und Macht an ferne globale Institutionen. Sie werden sich darum kümmern. Hoffen wir. Aber allzu oft passiert, wenn der Klimawandel für Missstände verantwortlich gemacht wird, einfach gar nichts.
Wie die meisten dualen Unterscheidungen hält jene zwischen Symptom und Ursache näherer Betrachtung nicht Stand. Trotzdem ist diese Unterscheidung immer noch nützlich. Ursachen sind Symptome und Symptome sind Ursachen, ja. Also lassen Sie uns die Komponente des Ursache-Symptom-Komplexes, die sich uns am auffälligsten präsentiert, als „Symptom“ bezeichnen. Die Borreliose ruft uns am lautesten. Für eine andere Kultur wäre es vielleicht eher das Verschwinden der Hornsträucher in mittelatlantischen Wäldern oder vielleicht eine Veränderung im Gesang der Vögel, die Ihnen und mir nie aufgefallen wäre. Welches Geschehen in der Welt wir wahrnehmen, sagt also genauso viel über uns selbst wie über die Welt aus. Es zeigt, was wir für wichtig, bedeutsam, wertvoll und heilig halten, und was unbedeutend oder nutzlos für uns ist. Anders gesagt: Was wir sehen, zeigt, wie wir sehen.
Pedantische Nebenbemerkung: Ich vertrete in diesem Buch nicht (und auch sonst nirgendwo) die postmoderne Haltung, dass Wirklichkeit und Wahrheit Konstrukte der menschlichen Kultur sind – dass unsere Art zu sehen allein bestimmt was wir sehen, oder dass es nichts Seiendes jenseits der menschlichen Wahrnehmung gibt. Vielleicht haben postmoderne Philosophen Recht damit, dass es keine Fakten gibt sondern nur Bedeutungen, die mit Machtdynamiken, Gender-Unterdrückung und ethnischer Unterdrückung etc. aufgeladen sind. Was sie aber ablehnen müssen, ist die Ansicht, dass wir Menschen nicht die einzigen sind, die einen Sinn sehen, nicht die einzigen Autoren, nicht die einzigen voll und ganz subjektiven Akteure. Unsere Sichtweisen, unsere Erzählungen und unsere Mythen speisen sich aus einer Quelle jenseits unseres Verstandes.
Unter den vielen möglichen ursächlichen Erklärungen für die Borreliose – oder den Klimawandel oder jedes andere Problem – entscheidet sich unsere Kultur für jene, die den Status quo am besten wahrt. Die dominante Kultur entscheidet sich für das Narrativ, das ihre Dominanz aufrechterhält.
Die Menschen neigen dazu, Probleme so in Begriffe zu fassen, dass sie zu den Werkzeugen passen, die ihnen bekannt sind und zur Verfügung stehen. Wenn du einen Hammer hast, schaut alles wie ein Nagel aus. Wenn du Antibiotika hast, wirst du immer nach einem Bakterium suchen. Wenn du auf Kriegslogik programmiert bist, wirst du immer zuerst nach dem Feind Ausschau halten.
Das mächtigste und vertrauteste Werkzeug unserer Gesellschaft sind die quantitativen Methoden der Wissenschaft. Daher formulieren wir das Problem Klimawandel in Zahlen. Wir verwenden Zahlen (wie etwa die globalen Durchschnittstemperaturen) um zu beweisen, dass er passiert, andere Zahlen (CO2-Emissionen), um Gegenmaßnahmen zu entwickeln, und wieder andere Zahlen (in Form von Computermodellen), um Zukunftsprognosen zu erstellen und Vorgaben für die Politik zu machen. Aber ist dies das einzige Werkzeug? Ist es überhaupt das richtige Werkzeug? Wir könnten das angesichts der Tatsache bezweifeln, dass der Schaden, den die industrielle Zivilisation auf dem Planeten angerichtet hat, unter eben jenem Regime von Zahlen und Quantifizierung zustande gekommen ist. Mit der Wissenschaft beschreiben wir die Welt in Zahlen und mathematischen Beziehungen. Mit der Technologie wenden wir diese Zahlen an, um die materielle Welt unter Kontrolle zu bringen. Mit der Industrie machen wir die Welt zu Waren, die über Kennzahlen charakterisiert werden können. Mit der Wirtschaft konvertieren wir alle Dinge in eine andere Zahl, die ihr Wert genannt wird.
Wir würden gerne den Klimawandel mit Methoden und Denkweisen beseitigen, die uns vertraut sind, weil wir damit die Grundlage der Gesellschaft, wie wir sie kennen, aufrecht erhalten können. Diese Methoden und Denkweisen, das quantitative Weltbild, sagen uns, dass wir die Lage retten können, indem wir auf fossile Treibstoffe verzichten. Unglücklicherweise wird uns, wie ich später erörternwerde, der Verzicht auf fossile Treibstoffe nicht aus der ökologischen Krise führen. Eine tiefer gehende Revolution steht an.
Der Verzicht auf fossile Treibstoffe stellt keinen so umfassenden Wandel dar, wie er erforderlich wäre, um den an allen Ecken und Enden stattfindenden Ökozid aufzuhalten. Es ist vorstellbar, dass es uns gelingt die CO2-Emissionen zu eliminieren, indem wir alternative Energiequellen erschließen, um die industrielle Zivilisation zu versorgen. Es mag bei näherer Betrachtung unrealistisch wirken, aber es ist zumindest vorstellbar, dass unser Lebensstil in seinen Grundlagen mehr oder weniger unverändert weiterbestehen könnte. Das gilt nicht für die Zerstörung von Ökosystemen im Allgemeinen, die alles umfasst, worauf die moderne technologische Gesellschaft gegründet ist: Minen, Steinbrüche, Chemikalien in der Landwirtschaft, Medikamente, Militärtechnologie, globaler Transport, Elektronik, Telekommunikation usw. Das alles muss sich auf seine nächste Inkarnation vorbereiten; manches wird auch obsolet werden.