Klima – eine neue Perspektive
Kapitel
Kapitel 2: Jenseits von Klima-Fundamentalismus
Nichts anderes zählt?
„Eines Tages wirst du dich entscheiden müssen, Charles, ob Du relevant sein möchtest oder nicht.“
Das sagte einmal ein einflussreicher Umweltaktivist zu mir, nachdem er mich über meine verschiedenen Interessen und Aktivitäten reden gehört hatte. Er meinte damit ungefähr Folgendes:
Es gibt einen ständig kleiner werdenden Handlungsspielraum für den Klimaschutz, bevor unumkehrbare Rückkopplungsschleifen zur unvermeidlichen Auslöschung der Menschheit führen werden. Der einzig entscheidende Beitrag, den du leisten kannst, ist daher, dich in jedem Augenblick hundertprozentig dafür einzusetzen, mit allen Mitteln die Treibhausgas-Emissionen so schnell wie möglich zu reduzieren. Deine anderen Interessen sind belanglos. Wenn wir nicht bald eine vernünftige CO2-Steuer einführen, dann wird es keine Rolle spielen, ob das Männliche sich mit dem Weiblichen versöhnt, ob die Wale gerettet werden, ob man verhindern kann, dass Jugendliche aus der Schule direkt ins Gefängnis wandern. Auch soziale Gerechtigkeit, Bildung, psychische Gesundheit, ganzheitliche Medizin, wissenschaftliche Anomalien, bindungsorientierte Elternschaft[1], Gemeinschaftsbildung, neue Wirtschaftsweisen, Philosophie, Geschichte, Kosmologie, neo-Lamarck‘sche Biologie, heilige Pflanzenmedizin, gewaltfreie Kommunikation, Pflanzenintelligenz, bedrohte Sprachen, Souveränität für indigene Völker, pansubjektive Metaphysik… – keines der Themen, über die du schreibst, ist von Bedeutung, solange es nicht einen direkten, signifikanten, zeitnahen Einfluss auf Treibhausgase hat. Wenn wir diesen Kampf einmal gewonnen haben, dann können wir uns wieder anderen Dingen zuwenden. Also, wirst du dich diesem Kampf anschließen oder nicht?
Dieses Denkmuster wird Fundamentalismus genannt, und es entspricht in seiner Dynamik zwei Institutionen, die für unsere Zivilisation prägend sind: Geld und Krieg. Fundamentalismus reduziert das Komplexe auf das Einfache und verlangt die völlige Ausrichtung auf ein letztes Ziel, dem das Unmittelbare, das Menschliche, das Persönliche geopfert werden muss. Diszipliniert durch die Erwartung himmlischer Belohnungen oder höllischen Bestrafungen verleugnet der extreme religiöse Fundamentalist seine Menschlichkeit um dem zu dienen, was Gott nach seiner Auslegung der Religion verlangt. Diszipliniert durch wirtschaftliche Zwänge opfern Millionen von Menschen ihre Zeit, Energie, Familie und das, was ihnen wirklich wichtig ist, dem Geld. Diszipliniert durch eine existentielle Bedrohung wendet sich ein Land im Krieg von Kultur, Müßiggang, bürgerlichen Freiheiten und allem ab, was nicht kriegswichtig ist.
Jeder, der eine gewisse Skepsis gegen diese Institutionen hegt, wird vielleicht auch die gängige Denkweise, die dem Klimaschutz zugrunde liegt, mit Argwohn betrachten, die ja auch an einer universellen Ursache festhält, und der zufolge ebenfalls alles für ein letztes Ziel geopfert werden soll. Wenn wir uns einig sind, dass das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht, dann ist jedes Mittel legitim, und jedes andere Anliegen – etwa eine Gefängnisreform, Unterkünfte für Wohnungslose, Betreuung von Menschen mit Autismus, die Rettung misshandelter Tiere oder ein Besuch der eigenen Großmutter – wird zu einer ungerechtfertigten Ablenkung vom einzig wichtigen Anliegen. In letzter Konsequenz verlangt diese Einstellung, dass wir mit versteinertem Herz unseren Blick von den Bedürfnissen unserer unmittelbaren Umwelt abwenden. Wir dürfen keine Zeit verlieren! Alles steht auf dem Spiel! Jetzt geht‘s ums Ganze! Wie sehr das doch der Kriegslogik gleicht. Was Wunder, dass den Umweltaktivistinnen eine regelrechte Feindseligkeit von Seiten der Menschen aus benachteiligten Schichten entgegenschlägt, wie mir eben wieder ein Community Organizer[2] erzählte. Ihre Bedürfnisse werden ignoriert, und tatsächlich sind sie es, die zuallererst in diesem Krieg geopfert werden.
Während es in diesem Buch zwar hauptsächlich um ökologische Heilung geht, distanziere ich mich von dem Standpunkt, dass nicht auch anderes ebenso wichtig ist. „Nur der Umweltschutz zählt“ – das ist eine Rhetorik, die für viele Menschen aus der Arbeiterklasse oder Menschen, die Minderheiten angehören, abstoßend ist, weil darin die bevormundende Botschaft mitschwingt: „Wir wissen besser als ihr, wofür es zu kämpfen gilt.“ Damit erklärt man ihre Sorgen für nichtig. In Amerika werden hauptsächlich nicht-weiße Menschen von der Polizei auf der Straße willkürlich aufgehalten und durchsucht. Einem großen Teil der Bevölkerung wird damit unterstellt kriminell zu sein. Aber was macht das denn schon aus angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs der Zivilisation? Was macht die Arbeit der Näherinnen in Ausbeuterbetrieben aus, oder was spielen die krebserregenden Stoffe im Wasser für eine Rolle, wenn der Klimawandel die ganze Erde für menschliches Leben unbewohnbar macht? Eure Sorgen sind nicht wichtig. Wenn wir das glauben, werden wir (auch wenn wir nicht so undiplomatisch sind, das laut auszusprechen) eine kämpferische Mentalität ausstrahlen und damit nur Menschen ansprechen, die so fundamentalistisch eingestellt sind wie wir selbst.
Wenn wir einen breiten sozialen Konsens darüber fördern wollen, dass der Planet beschützt und wieder geheilt werden soll, dann müssen wir diese Kriegslogik an der Wurzel umkehren. Die Stimme der Separation protestiert: „Aber es ist doch wahr! Keines dieser Anliegen hat noch Bedeutung, wenn die Temperatur um zehn Grad ansteigt.“[3] Dieser Glaube basiert auf einer Welterzählung, die die enge Verbundenheit aller Dinge miteinander nicht anerkennt. Wenn wir die Wirklichkeit als eine Ansammlung getrennter, ursächlich nicht zusammenhängender Phänomene betrachten, dann wird es leichtsinnig erscheinen, sich angesichts des Klimawandels trotzdem darum zu bemühen, etwa die Gentrifizierung in Brooklyn zu bremsen oder gegen den Sexhandel mit Haiti einzuschreiten.
Vor dem Hintergrund der Geschichte vom Interbeing erfassen wir verschiedene Ursache-Wirkungs-Beziehungen intuitiv. Es überrascht uns nicht, dass in einer Gefängnisgesellschaft, die Millionen ihrer Mitglieder einsperrt, auch die nicht-Eingesperrten ihre Freiheit verlieren. Es überrascht uns nicht, dass die Gewalt, die ein Land weltweit ausübt, sich auch in das Land einschleicht, sei es in Form von häuslicher Gewalt oder selbstzerstörerischer Gewohnheiten, egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen, Überwachungsmaßnahmen, Mauern oder Zäune das verhindern sollen. Und es überrascht uns nicht, dass sich Umweltverschmutzung und die Zerstörung natürlicher Lebensräume in körperlichen Krankheiten und der Verwüstung unserer seelischen Landschaften widerspiegelt. Die Illusion der Separation macht uns glauben, dass es möglich wäre mit den passenden Luft- und Wasserfiltern, EMF-Blockern[4], Nahrungsergänzungsmitteln, Klimaanlagen, Antibiotika, Fungiziden, Pestiziden usw. auf einem vergifteten Planeten ein gutes Leben zu führen, indem wir die Natur durch Technik ersetzen. In einer Welt des Interbeing wissen wir, dass die Gesundheit des Einzelnen unmöglich ohne die Gesundheit aller aufrechtzuerhalten ist.
Wenn wir uns Solidarität wünschen, müssen wir begreifen, dass Genozid und Ökozid, menschliche Erniedrigung und Umweltzerstörung aus dem selben Stoff gemacht sind, und dass sich nur alles zusammen oder nichts davon ändern kann. Das heißt nicht, dass wir unser Augenmerk auf rassistisch motivierte oder soziale Ungerechtigkeit mit dem strategischen Ziel richten sollen, die betroffenen Menschen dann zum Umweltaktivismus zu bekehren. Es geht darum zu erkennen, dass Heilung auf jedweder Ebene zur Heilung aller Ebenen beiträgt.
Weil wir nicht gewohnt sind ganzheitlich zu denken, scheint es unlogisch, dass die Gründung eines sozialen Unternehmens, bei dem wohnungslose Menschen angestellt sind, den Klimawandel zu bremsen hilft. Mit unserer jetzigen Weltsicht scheint es hier keinen kausalen Zusammenhang zu geben. Unser vorherrschendes System zur Wissensgewinnung (die Wissenschaft) bedient sich der Kontrolle von Variablen, bricht das Ganze in seine Teile herunter und ermittelt messbare, vorhersagbare kausale Vorgänge. So geschaffenes Wissen ist kulturell legitim. Aber die kausalen Fäden, die Wohnungslosigkeit und ökologischen Niedergang miteinander verknüpfen, sind weder messbar noch vorhersagbar. Tatsächlich könnten Zyniker im Geiste Ebenezer Scrooges[5] argumentieren, die Wiedereingliederung wohnungsloser Menschen schade dem Klima, weil sie damit zu Konsumenten würden.
Natürlich ist es möglich eine Begründung zu konstruieren, warum Unterkünfte für Wohnungslose gut für die Umwelt sind, aber die wird nicht so leicht in der Sprache der Klimapolitik zu formulieren sein, und einen Mr. Scrooge würde sie wahrscheinlich auch nicht überzeugen. Wenn aber Mr. Scrooge einen Geisteswandel vollzieht und die Welt mit den Augen des Interbeing sieht, wird er davon ausgehen, dass die beiden Phänomene miteinander in Bezug stehen. Im Glauben an eine allen Phänomenen innewohnende Intelligenz könnte er die Vermutung anstellen, dass eine Gesellschaft, die gegenüber ihren verletzlichen Mitgliedern ungastlich ist, sich in einem Planeten widerspiegelt, der ungastlich für die Menschen ist. Er wird davon ausgehen, dass die tieferen Ursachen von Wohnungslosigkeit etwas mit den tieferen Ursachen des Klimawandels gemein haben. Statt „die Wohnungslosigkeit zu bekämpfen“ wird er versuchen zu verstehen, wie sie überhaupt zustande kommt. Er wird verstehen, dass es in Ordnung ist, sich dem zu widmen, was sein Mitgefühl am stärksten rührt, im Vertrauen darauf, dass sein Tun angesichts der globalen Krise immer noch „relevant“ ist. Und sein Tun wird nicht länger vom Selbsterhaltungstrieb und der Sorge um sein eigenes Überleben motiviert sein, weil er versteht, dass sein Wohlergehen untrennbar mit dem Wohlergehen aller verbunden ist, die er in sein größer werdendes Herz schließt.
Es gilt also die Frage auszuloten, was den Übergang zu einem Bewusstsein von Interbeing veranlasst. Der Schöpfer von Ebenezer Scrooge, Charles Dickens, wusste es: die Konfrontation mit Schönheit, Leid und Sterblichkeit; der Kontakt mit dem, was wirklich ist. Man könnte es eine Initiationserfahrung nennen. Ohne sie lockert sich die Umklammerung von Selbsterhaltungstrieb und Überlebensangst nie. Wir könnten versuchen, uns diese Ängste (durch das Drohen mit dem Klimawandel) zunutze zu machen, um die anderen Menschen zu umweltfreundlichem Verhalten zu motivieren. Doch der Versuch, ein Problem, das von außer Kontrolle geratenem, blindem Eigeninteresse verursacht wurde, durch einen Appell ans Eigeninteresse zu lösen, hieße Öl ins Feuer gießen. Wir brauchen das Gegenteil: Es gilt, den Kreis des Mitgefühls auszuweiten, bis er jedes Wesen auf dieser Erde mit einschließt.
Anmerkungen
[1]Anm. d. Ü.: Englisch: attachment parenting
[2]Anm. d. Ü.: Community Organizing bezeichnet ein Bündel an Maßnahmen zur Gemeinwesenarbeit. Es wird auf Stadtteilebene oder zur Mitgliedergewinnung für die Stärkung der Durchsetzungskraft von (benachteiligten) Gruppen eingesetzt.
[3]Grad Celsius. In diesem Buch werde ich außer in expliziten Ausnahmefällen das metrische System verwenden. Ich bevorzuge die traditionellen Maßeinheiten für den Alltagsgebrauch und das metrische System für wissenschaftliche Anwendungen. Traditionelle Maßeinheiten sind weniger willkürlich; sie haben Bezug zur Erfahrungswelt (Spanne, Fuß, Elle, ein sehr kalter oder heißer Tag, usw.). Das metrische System löscht im Gegensatz dazu lokale und kulturelle Differenzen aus und ersetzt sie durch einen globalen Standard. Das wurde bisher – wie die Kommerzialisierung von Natur und Kultur – als Fortschritt betrachtet.
[4]Anm. d. Ü.: zum Schutz gegen elektromagnetische Strahlung (electromagnetic field)
[5]Anm. d. Ü.: Der kaltherzige Geizhals Ebenezer Scrooge ist die Hauptfigur in der Novelle A Christmas Carol, dt.: Der Weihnachtsabend oder Eine Weihnachtsgeschichte, von Charles Dickens