Klima – eine neue Perspektive
Kapitel
Kapitel 1: Eine Krise des Seins
Wer sind „die“?
Das Artensterben, wie Sie wissen, endete nicht mit dem neunzehnten Jahrhundert. Das Schicksal der Wandertaube nahm das Unheil vorweg, welches das Leben auf unserem Planeten derzeit ereilt, eine Katastrophe, die nichts unberührt lässt. Die Katastrophe ist die Verarmung des Lebens, in jedem Sinne dieses Ausdrucks. Ausrottung ist eine Form von Verarmung; der ganz allgemeine Rückgang der Artenvielfalt ist ein anderer; und ebenso die sich ausbreitenden Wüsten an Land und in den Meeren und die allgemeine Erschöpfung des Leben, selbst dort, wo es noch grün ist. Auch wenn Arten nicht aussterben verbleiben oft nur kleine Restpopulationen; sie schrumpfen auf einen kleinen Teil ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets, verlieren Unterarten und genetische Vielfalt und bewohnen stark verarmte Ökosysteme. Der Schwund biologischen Lebens geht mit der Verarmung des menschlichen Lebens und der kulturellen Vitalität einher. Das alles sind Aspekte derselben Krise.
Kürzlich machte ich die Bekanntschaft mit einem Bauern aus North Carolina, den ich Mike nennen werde, ein schollenverbundener Mann, dessen Familie seit dreihundert Jahren dort lebt. Sein starker Dialekt, rar im Zeitalter der durch Massenmedien erzeugten sprachlichen Vereinheitlichung, ließ konservative „Südstaaten-Werte“ vermuten. Er war in der Tat voller Bitterkeit, allerdings nicht gegen die üblichen andersfarbigen oder liberalen Verdächtigen; stattdessen ließ er eine Tirade über die Regierung, Chemtrails, die Banken, die 9/11-Verschwörung, die Apathie der unmündigen Leute und so weiter vom Stapel. „Wir, das Volk, müssen uns erheben und sie niederschmettern,“ sagte er, aber da war keine Inbrunst in seiner Stimme, nur bleierne Verzweiflung.
Vorsichtig eröffnete ich ihm die Idee, dass die Täter dieser Verbrechen selbst Gefangene seien in einer Welt-Geschichte, in der alles, was sie täten, notwendig, rechtens und gerechtfertigt sei; und dass wir uns ihnen zugesellten, wenn wir selber auch glauben, das Böse müsse mit Gewalt bekämpft werden. Denn genau das ist die Ideologie, die unsere vermeintlichen Gegner dazu bewogen hat, Technologien der Kontrolle, ob nun sozialer, medizinischer, materieller oder politischer Art anzuwenden. Und ganz nebenbei, sagte ich, wenn es zum Krieg käme, um die Tyrannen zu stürzen, wenn es zu einem Kräftemessen käme, stünde es schlecht um uns. Sie sind die Meister des Krieges. Sie haben die Waffen: die Gewehre, die Bomben, das Geld, den Überwachungsstaat, die Medien und die politische Maschinerie. Wenn Hoffnung besteht, dann muss es einen anderen Weg geben.
Vielleicht ist das der Grund warum so viele altgediente Aktivisten nach Jahrzehnten des Kampfes der Verzweiflung erliegen. Liebe Leserin, lieber Leser, denken Sie, dass wir den militärisch-industriellen-finanziellen-landwirtschaftlichen-pharmazeutischen-NGO-edukativen-politischen Komplex[1] in seinem eigenen Spiel schlagen können? Die moderne Umweltbewegung, und speziell die Klimawandel-Bewegung, hat genau das versucht, und dabei hat sie nicht nur Niederlagen riskiert, sondern manchmal sogar eine Verschlechterung der Situation, selbst in ihren Siegen. Die ökologische Krise ist ein Aufruf zu einer tiefergreifenden Form von Revolution. Deren Strategie schließt ein, dass wir wiederherstellen, was die moderne Weltsicht und ihre Institutionen fast ausgerottet haben: unser gefühltes Verstehen der lebendigen Intelligenz und wechselseitigen Verbundenheit allen Seins. Das nicht zu fühlen, heißt nicht vollständig lebendig zu sein. Es heißt in Armut zu leben.
Mike verstand mich nicht. Er ist ein intelligenter Mann, aber es schien, als wäre er von etwas besessen; egal was ich sagte, immer pickte er ein oder zwei Schlüsselwörter heraus und schüttete mehr Bitterkeit aus. Offensichtlich konnte ich den „Gegner“ nicht durch die Macht des Intellekts „besiegen“ (das war ja genau die Denkweise, die ich kritisierte). Als ich mich dabei ertappte und erkannte, was ablief, hörte ich auf zu reden und begann, ihm zuzuhören. Ich lauschte nicht so sehr auf der semantischen Ebene, sondern auf die Stimme hinter den Worten und auf alles, was in dieser Stimme mitschwang. Schließlich wusste ich, was zu tun war. Ich fragte ihn dasselbe, was ich Sie fragen möchte: „Was hat Sie zu einem umweltbewussten Menschen gemacht?“
Das war der Moment, an dem Ärger und Bitterkeit der Trauer Platz machten. Mike erzählte mir von den Teichen und Bächen und Wildnissen, in denen er in seiner Kindheit gejagt und gefischt hatte, geschwommen und gestreunt war, und wie jedes einzelne durch Erschließung zerstört wurde: eingezäunt, zur Verbotszone erklärt, planiert, abgeholzt, asphaltiert oder zugebaut.
Mit anderen Worten ist er auf demselben Weg wie ich Naturschützer geworden, und, so würde ich vermuten, wie Sie auch. Er wurde zum umweltbewussten Menschen durch die Erfahrung von Schönheit und Verlust.
„Würden die Typen, die die Chemtrails machen lassen, es tun, wenn sie fühlen könnten, was Sie jetzt gerade fühlen?“, fragte ich ihn.
„Nein. Das könnten sie nicht.“
Die Wahrheit dieses Augenblicks, den Mike und ich gemeinsam erlebt haben, existiert parallel zu einer Wirklichkeit, in der sie es tatsächlich tun würden, und in der „die“ in Wirklichkeit wir alle sind, die zur Zivilisation gehören. Ein einziger Moment der Ehrfurcht, Dankbarkeit oder Trauer, wie tiefgreifend er auch sein mag, reicht weder aus, um Generationen andauernde Programmierungen aufzulösen, noch uns aus einer Ökonomie und Gesellschaft des Ökozids zu befreien. Können Sie in Ihr Auto steigen im Wissen um den Schadstoffausstoß und Ölteppiche und die Geopolitik der Erdölförderung? Ich kann es definitiv, und Sie vielleicht auch. Sie mögen vielleicht eine Geschichte darüber erzählen, warum es okay ist, warum es in Ihrem Falle gerechtfertigt ist, oder zumindest warum Sie es vertreten können. „Ich habe keine Wahl“, mögen Sie denken. Oder: „Immerhin habe ich ein schlechtes Gewissen. Immerhin bin ich eigentlich dagegen. Immerhin wähle ich Politiker und spende Geld an Organisationen, die versuchen, das System zu ändern. Und außerdem fahre ich mit Hybridantrieb.“ Alle möglichen Gründe finden sich, warum es okay ist, jetzt gerade in Ihr Auto zu steigen. Oder vielleicht denken Sie auch überhaupt nicht darüber nach.
Mir geht es nicht darum, dass Sie sich etwas vormachen – Sie erbärmlicher, selbstgerechter Heuchler! Ich will damit unsere Urteilsfehler ans Licht bringen und das Kriegsdenken, das sie erzeugen. Und ich möchte damit nahelegen, dass wir normalerweise das, was Mike beschrieben hat, nicht fühlen, weil wir in einem System, mit einer Ideologie und wahrscheinlich mit einer verletzten Psyche leben, die das vollständige Fühlen nur sporadisch erlauben. Das System betäubt uns und ist auch abhängig von unserer Betäubung.
Ich möchte, dass wir die Ebene der Frage: „Ist es okay?“ ganz und gar überwinden, und auch die darunter liegende: „Bin ich okay?“. Dies ist die Sprache des nach innen gerichteten Krieges. Wir wollen nicht nur den Feind sondern auch auch dessen innere Projektion besiegen: den gierigen, heuchlerischen, unehrlichen, egoistischen, selbstgerechten Teil in uns. In diesem Kampf wird der Selbstekel als Verbündeter, als erstes Zeichen der Erlösung verstanden. Wir haben uns auf die gute Seite geschlagen und Teile von uns zum Feind erklärt. Indem wir uns von diesen Teilen lossagen, glauben wir einen Fortschritt zu machen um sie zu überwinden. Welch große Anstrengung, die wir da unternehmen, welch anerkennenswerter Fortschritt.
Machen wir aber jemals wirkliche Fortschritte? Oder liegen die Fortschritte nur darin, unsere Entscheidungen zu entschuldigen, zu verhüllen und zu rationalisieren, damit sie in unser ethisches Bild passen?
Unternehmen und Regierungen machen genau das: sie verhüllen, sie entschuldigen, sie leugnen und sie machen kosmetische, selbstrechtfertigende Veränderungen, um ein grünes Image aufrecht zu erhalten. Wir könnten den Unternehmen vorwerfen, dass sie mit der Grünfärberei ein falsches Spiel spielen und ihnen Gier anlasten. Das beschert uns einen Feind im Außen, den wir bekämpfen können, aber ich fürchte, dass das Problem (wie bei unseren eigenen Selbstrechtfertigungen) in etwas viel Tieferem wurzelt.
Wenn man moralisches Fehlverhalten, sei es auf individueller oder politischer Ebene, für die beängstigende Lage von Menschheit und Erde verantwortlich macht, ist das in jedem Fall ein gefährlicher Irrtum, der die Aufmerksamkeit von systemischen und weltanschaulichen Ursachen ablenkt. Das verschleiert ein Problem, von dem wir nicht wissen, wie wir es als Problem lösen können, das wir selbst geschaffen haben. Wir wissen zumindest theoretisch, wie man schlechte Menschen davon abhält, Schlechtes zu tun. Wir können sie abschrecken, sie überwachen, sie einsperren oder sie töten. Wir können sie bekämpfen, und wenn wir sie besiegt haben, ist das Problem gelöst.
Unser politischer Diskurs ist voll von Narrativen, in denen Gut gegen Böse steht. Jede Seite sieht selbstverständlich sich selbst als die gute und die andere als die böse (oder irgendeine Verschlüsselung dafür: krank, irrational, verdreht, unethisch, korrupt, „aus dem Reptiliengehirn handelnd“, usw.). Darin sind sich beide Seiten einig. Deshalb stimmen auch beide Seiten in ihrer strategischen Blaupause für den Sieg überein: Errege soviel Wut und Empörung unter den Guten wie möglich, damit sie sich erheben und die Bösen niederwerfen. Kein Wunder, dass unser bürgerlicher Diskurs in solch polarisierte Extreme ausgeartet ist.
Das heißt nicht, dass ich keine Meinung darüber habe, welche Seite in heutigen politischen Fragen richtig liegt. Ich sage auch nicht, die Wahrheit sei eine Frage der Meinung, oder dass wir unsere Realität selbst erschaffen. Es ist vielmehr so, dass in unserer Gesellschaft die Gründe für die Meinungen und Verhaltensweisen der anderen Seite üblicherweise missverstanden werden.
Das Böse verantwortlich zu machen wäre eine Fehldiagnose des Problems. Ich habe diese Idee in meinem letzten Buch gründlich behandelt; an dieser Stelle werde ich Sie nur bitten, sich in die Gesamtheit der Umstände eines leitenden Angestellten eines Fracking-Unternehmens hineinzuversetzen. Die „Gesamtheit der Umstände“ könnte folgendes einschließen:
- die Unternehmenskultur
- die Kultur der Energiewirtschaft
- Leistungsdruck
- ökonomischen Druck auf das Unternehmen
- Jahre feindseliger Attacken von „Ökos“, die Ihnen ignorant und fehlgeleitet erscheinen
- die Propaganda von der Energie-Autarkie
- Ideologien des Fortschritts, Wachstums und der Technologie
- die eingefleischte Wahrnehmungsweise von der Erde als Ding
- schon von klein auf auf „Erfolg“ getrimmt worden zu sein
Wie würden Sie unter solchen Bedingungen handeln? Wo würden Sie sich schwer tun, Entscheidungen zu treffen? Welches wären die schmerzhaftesten Kompromisse?
Was sind Ihre schwierigsten Entscheidungen und schmerzhaftesten Kompromisse jetzt, in diesem Augenblick? Fahren Sie ein Auto, das Benzin oder Diesel verbrennt? Sind Sie gestern, als es regnete, wohin gefahren, wo sie eigentlich auch das Rad hätten nehmen können? Duschen Sie heiß und manchmal länger als nötig? Gehen Sie auf Bürgersteigen aus Beton? Nutzen Sie ein Handy, das problematische Mineralien enthält? Nutzen Sie Kreditkarten oder Banken, die die Plünderung der Natur finanzieren? Wenn ja, dann mag da draußen möglicherweise jemand denken, Sie seien ebenfalls böse. Ausbeuterin! Heuchler! Sie verbrauchen mehr als Sie beitragen! Manchmal denken Sie das womöglich selbst über sich. Und zu anderen Zeiten werden Sie vielleicht Mitgefühl mit sich haben, weil Sie erkennen, dass Sie unter den gegebenen Umständen, Belastungen, Traumata und Begrenzungen so gut handeln, wie Sie können.
Soll das bedeuten, wir könnten ebensogut aufhören, etwas verändern zu wollen? Nein. Wir müssen fragen: Welche Umstände bringen Entscheidungen hervor, die der Erde schaden? Wenn wir mit anderen Menschen zu tun haben, müssen wir die Frage stellen, die zu Mitgefühl führt: „Wie fühlt es sich an, du zu sein?“ Je mehr wir verstehen, desto mehr leben wir in der Realität, und umso weniger bewohnen wir eine Fantasiewelt, die von unseren Projektionen bevölkert ist. Sie können natürlich fortfahren, Ihre Gegner als verachtenswerte Bösewichte anzusehen, aber wenn sie das in Wirklichkeit gar nicht sind, dann leben Sie in einem Irrglauben. Wenn wir uns auf die Übeltäter konzentrieren, werden wir blind gegenüber den tieferen, systemischen Gründen und jagen endlos den falschen Lösungen nach, die im Grunde nur den Status Quo aufrecht erhalten.
Wenn wir uns dem Irrglauben ergeben, erschaffen wir ihn immer wieder neu: spielen wiederholt die vorgesehenen Rollen und erzeugen ihre Dramen, rennen immer wieder auf denselben alten Pfaden des Labyrinths. Selbst wenn wir vorübergehende Siege gegen die Schurken erringen, scheint sich die Gesamtlage nicht zu ändern. Wir kommen dem Ausgang einfach nicht näher. Statt einen Sieg zu erringen, bestärken wir in der Regel lediglich unsere Überzeugung, dass wir tatsächlich die Guten sind. Diese polarisierte Sicht ist eines der Dinge, die wir aufgeben müssen, wenn wir eine Ära der ökologischen Heilung beginnen möchten. Sind Sie willens, auf das Sieger-Sein zu verzichten? Sind Sie bereit auf den Tag zu verzichten, an dem sich herausstellt, dass Sie Recht gehabt haben? Sind Sie bereit aufzuhören, sich selbst in der Mannschaft der Guten im Kampf gegen die Mannschaft der Bösen zu sehen? Denn das glaubt jede Seite in jeder beliebigen Debatte normalerweise von sich selbst, und dieses Muster etwas zum Anderen zu machen steht beispielhaft für die Kluft zwischen Mensch und Natur und vertieft sie.
Ich stelle diese Fragen absichtlich. Ich werde in diesem Buch geltend machen, dass alle Positionen im Spektrum der Meinungen zum Klimawandel, vom Skeptizismus bis zum Klimapessimismus, falsch sind. Wie jene, die böse Menschen für das Böse in der Welt verantwortlich machen, operieren sie in einem zu flachen kausalen Rahmen. Die Gesamtheit der Umstände, die Umweltzerstörung und Klimaveränderung antreiben, ist größer, als man landläufig zu begreifen meint.
Anmerkungen
[1]Ich hoffe, ich habe niemanden ausgelassen; ich möchte nämlich nicht unhöflich erscheinen.