Die Überwindung der erlösenden Gewalt
Diese Essayreihe soll einen Weg aufzeigen, das alte Muster zu überwinden, bei dem die Gesellschaft ihre Wut, Ängste und Rivalitäten an einer entmenschlichten Opfergruppe entlädt. René Girard nennt dieses Muster opferkultische Gewalt. Diese unterschwellige Kraft wächst in Zeiten sozialer Spannungen, wie während einer Wirtschaftskrise, Hungersnot, Epidemie oder bei politischen Unruhen. Dann können elitäre Kräfte sie zu faschistischen Zwecken missbrauchen.
Im dritten Teil dieser Reihe habe ich die Stigmatisierung und Ächtung der Ungeimpften als ein brandaktuelles Beispiel einer Mobdynamik in Aktion beleuchtet. Allerdings reicht die Mobdynamik weit über das Impfthema hinaus und betrifft die Impfgegner nicht weniger, bei denen oft die gleichen Gedankenmuster erkennbar sind: Wir sind die Guten, die anderen die Bösen. Wir sind rational, die anderen irrational. Wir sind bewusst, die anderen schlafen. Wir handeln ethisch korrekt, die anderen sind korrupt. Keine Dissidentenbewegung, auch nicht diese, ist vor der Grobheit gefeit, die wie ein systemisches Gift die heutige Politik durchdringt.
Selbstgerechtigkeit, Spott, Beschimpfung und Verachtung sind notwendige Vorläufer des Girard‘schen Sündenbockmechanismus. Gleichzeitig sind sie mächtige rhetorische und psychologische Werkzeuge um Truppensolidarität zu erzeugen: Wenn du von unseren Ansichten abweichst, werden wir auch dich der Lächerlichkeit preisgeben. Menschen wissen instinktiv um die Gefahr, die von der Verhöhnung und der rituellen Erniedrigung durch die Gruppe ausgeht. Es handelt sich um ein uraltes Muster. Zunächst verspottet und verhöhnt die Menge das Opfer, um es dann mit Unrat zu beschmieren, es zu etwas Verächtlichem und Widerwärtigen zu machen. Dann fliegen die Steine.
Eine solche Taktik vermag die eigenen Reihen zu disziplinieren und einen Teil der Zaungäste zur Kooperation zu bewegen. Bevor mir dies bewusst wurde, fühlte auch ich mich überlegen, wenn ich etwas Abwertendes über die „Idioten“ las (also die, die eine andere Meinung als der Autor vertraten). Hinter der Überlegenheit fühlte ich Zugehörigkeit und Sicherheit. Möglicherweise hätte ich sogar nur deswegen beigepflichtet, um mich überlegen, zugehörig und sicher zu fühlen. Diese Taktik funktioniert so: „Willst du ein guter Mensch sein und nicht verachtenswert? Dann sei meiner Meinung!“
Sie ist jedoch kontraproduktiv, wenn sie diejenigen adressiert, die eine klare Gegenposition vertreten. Die Verächtlichmachung – zurecht als Angriff gewertet – treibt sie dazu, ihre Reihen zu schließen und mit gleichen Waffen zurückzuschlagen. Viele der Unentschlossenen wenden sich ebenfalls in dem Moment ab, wenn sie sehen, dass es hier nicht mehr um Vernunft und den aufrichtigen Wunsch geht, im gemeinsamen Dialog die Wahrheit zu finden. Hier tobt ein Kampf, oder weiter gefasst: ein Krieg, und im Krieg dienen beide Seiten dem Sieg, nicht der Wahrheit, ganz gleich was sie nach außen hin vorgeben.
Ein Sprichwort sagt: „Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges.“ Und die erste Lüge des Krieges ist dieselbe wie die der Mobgewalt, des Pogroms und der Hexenjagd: dass bestimmte Menschen keine richtigen Menschen seien. Solange wir diese Lüge nicht entlarven, wird sich dieses tragische historische Muster wiederholen. Auch in unserer persönlichen und kollektiven Sinnfindung werden wir im Nebel tappen.
Dieser letzte Punkt ist möglicherweise nicht so offensichtlich. Auf das Risiko hin, die Zensur zu provozieren, werde ich also die Impfkontroverse nutzen, um aufzuzeigen, wie Entmenschlichung uns für die Wahrheit blind macht. Auf Seiten der Impfskeptiker hält die Vorstellung, dass Virologinnen und andere Wissenschaftler ahnungslos, korrupt, wahnhaft oder inkompetent seien, Skeptiker davon ab, wesentliche Erkenntnisse aus den Mainstream-Wissenschaften zu nutzen. Leichtgläubig halten sie dann spekulative oder leicht zu entlarvende Theorien für die Wahrheit und es gelingt ihnen nicht, sie von gehaltvolleren Aussagen zu unterscheiden. Das stiftet Verwirrung in ihren Reihen.
Hier ein Beispiel: die Falschmeldung, die in einigen Lagern der Impfskeptiker verbreitet ist, dass „kein Coronavirus isoliert worden und nach den Koch‘schen Postulaten bewiesen worden“ sei. Während das technisch richtig ist, stellt es gleichzeitig eine unmögliche Forderung dar. Die Koch‘schen Postulate wurden für Bakterien formuliert, die (häufig) auf Nährmedien gezüchtet und dann „isoliert“ werden können. Viren können nur in lebenden Zellen gezüchtet werden; daher wird jede Probe mit viralen Teilchen auch Zellreste enthalten, einschließlich nicht viraler DNS und RNS. Aus diesem Grund werden kombinatorische Methoden angewendet, um das virale Genom zu ermitteln. Wer meint, dass hunderttausende Virologen die vergangenen fünfzig Jahre damit verbracht haben, eine Halluzination zu erforschen, muss sie für korrupte Idioten halten, die nicht in der Lage sind, das Offensichtliche zu erkennen.[i] Sie als solche zu sehen, verhindert die Kommunikation, das Lernen und die gemeinsame Suche nach der Wahrheit. Auch lenkt es von legitimer und differenzierter Kritik an konventionellen Paradigmen der Virologie und Impfstoffwissenschaften ab.[ii] Orthodoxe Wissenschaftler, die uninformierte Kritik satt haben, verhärten dann ihre Haltung auch gegen legitime Kritik.
Indem sie die ganze Skeptikerbewegung über einen Kamm schert, nämlich den ihrer unvernünftigsten Vertreter, nimmt die Impfbefürworterseite häufig an, die Impfskeptiker seien ein Haufen Fanatiker, die nur ihre eigene „Freiheit“ sehen, auf Kosten der öffentlichen Gesundheit. Wie viel Aufmerksamkeit werden sie dann den Whistleblowern, andersdenkenden Wissenschaftlern und erschreckenden Berichten von Impfschäden schenken, die es nicht in offizielle Datenbanken schaffen?
Ein anschauliches Beispiel dieser Taubheit ist mir heute begegnet, als ich einige Instagram- und Tik Tok-Kanäle von Menschen durchforstet habe, die behaupten, Impfschäden erlitten zu haben. Sie berichten beispielsweise von wochenlangem Zittern, das kurz nach der Impfung begonnen hat, von Unterleibslähmungen, Schlaganfällen, Sprachverlust und anderen gravierenden Einschränkungen. Viele berichten auch, dass ihre Ärzte meinten, dass es Zufall sei und nichts mit der Impfung zu tun habe. Mir erscheinen sie ehrlich – vielen allerdings offenbar nicht. Die Kommentarspalten sind voller Hasskommentare: „Fake“, „Clown“ und „Lügnerin“ gehören noch zu den milderen unter ihnen. „Bekloppte“, Drohungen das Jugendamt einzuschalten, um ihnen die Kinder wegzunehmen, frauenfeindliche Beleidigungen (es sind mehrheitlich Frauen, die von Impfschäden berichten). Ja, es ist denkbar, dass diese Menschen nur simulieren, aber woher wollen die Kommentierenden das so genau wissen? Wie kann Instagram sicher sein, dass diese Posts „schädliche Falschmeldungen“ enthalten, wenn es sie entfernt?[iii] Außerdem: Nun da diese Form der Unterdrückung institutionalisiert ist, wie können wir als Kollektiv wissen, wie weit Impfschäden tatsächlich verbreitet sind? Kommunikatives Versagen lässt uns hier im Dunkeln tappen.
Zensur, Desinformation und Propaganda haben eine wichtige Verbündete, ohne die sie niemals wirksam wären. Diese Verbündete ist die Massenpsychologie und die soziale Gewohnheit der Entmenschlichung. Taktiken wie diese funktionieren jedoch nur, wenn wir bereit sind, die anderen so zu sehen, wie die Propaganda es vorgibt, und nicht versuchen, uns selbst ein Bild zu machen, indem wir ihnen tatsächlich zuhören.
Der Feind in unserer Mitte
Es ist nicht überraschend, dass die Tendenz, andere zu entmenschlichen, uns für Propaganda empfänglich macht. Sobald wir jemanden entmenschlichen, sind wir nicht in der Wahrheit (denn die Wahrheit ist, dass jeder Mensch eine göttliche Seele, ja das Leben selbst ist, ein fühlendes, denkendes Subjekt mit einer einzigartigen Welterfahrung). Wenn wir nicht in dieser Wahrheit ruhen, dann werden wir für Lügen empfänglich.
Ebenso werden wir anfällig für Spaltung und Paranoia. Wer daran gewöhnt ist, überall Schurken und Gauner zu sehen, wird diese auch leicht in den eigenen Reihen entdecken. Dann muss man nur anfangen, bestimmte Mitglieder einer Dissidentenbewegung als Infiltranten, Verräter oder „kontrollierte Opposition“ zu diffamieren, um die Bewegung zu zerstören. Anschuldigungen wie diese speisen sich aus bestehenden Rivalitäten: „Aha! Du bist anderer Meinung als ich, weil du ein sowieso bist.“ Jede Bewegung, die die Welt durch einen Polarisationsfilter sieht, ist anfällig für Zerwürfnisse.
Damit soll hier nicht geleugnet werden, dass es Infiltranten und Informantinnen gibt. Geheimdienste haben eine lange, wohl dokumentierte Geschichte der Infiltration und des Versuchs Dissidentenbewegungen zu zerstören (wie beispielsweise die Bügerrechts-, Umwelt- und Antiglobalisierungsbewegungen). Zweifellos geschieht heute dasselbe bei den Kritikern der Coronamaßnahmen. Meine Botschaft ist nicht automatisch jedem zu trauen. Vertrauen kann auf einer neuen Grundlage aufbauen: Ich vertraue denen, die eine Bereitschaft zeigen, nicht um jeden Preis daran festzuhalten, dass nur sie die Guten sind und Recht haben.
Wir wollen auch nicht leugnen, dass es Korruption, Unbewusstheit, Ignoranz und Irrationalität gibt. Aber kein Mensch kann auf eine dieser Eigenschaften reduziert werden, ohne dass wir ihn seiner Menschlichkeit berauben und damit der Wahrheit Gewalt antun. Letzten Endes führt Gewalt an der Wahrheit zu anderen Formen der Gewalt. Jemanden abzustempeln und darauf zu reduzieren, umgeht die Frage, die allein im gegenwärtigen kritischen Augenblick die Menschlichkeit zu retten vermag: Wie ist es, du zu sein?
Die größte Krise der Menschheit heute ist nicht die Impfung, und auch nicht deren Gegner; nicht das Virus, nicht chronische Erkrankungen, Überbevölkerung oder Atomwaffen, ja nicht einmal der Klimawandel. Die größte Krise der heutigen Zeit ist eine Krise des Wortes. Sie ist eine Krise der Einigung. Sie ist eine babylonische Kommunikationskrise. Wären wir miteinander in Verbindung, wäre kein anderes Problem schwer zu lösen. Gegenwärtig hebeln sich die gewaltigen Kräfte der menschlichen Kreativität gegenseitig aus. Die kristalline Matrix unserer gemeinsamen Schöpfung liegt in Scherben. Warum? An fehlenden Kommunikationsfähigkeiten liegt es nicht. Es liegt an unserer Gewohnheit, einander in einer Art wahrzunehmen, die uns zu weniger macht, als wir sind.
Bevor ich fortfahre, möchte ich klarstellen, dass Mitgefühl nicht gleich Kapitulation ist. Kommunikation ist nicht gleich Kompromiss. Pazifismus ist nicht gleich Passivität. Das göttliche Wesen einer anderen Person zu sehen bedeutet nicht, sie ihren Willen durchsetzen zu lassen. Anderen Meinungen zuzuhören bedeutet nicht, seine eigenen nicht zu äußern.
Entgegen den Befürchtungen der Parteigänger lässt die Vermenschlichung des Gegners uns effektiver, nicht weniger effektiv die Ziele verfolgen, die letztlich uns alle vereinen müssen: Heilung, Gerechtigkeit und Frieden. Selbst wenn es zum Kampf kommt, wird man besser kämpfen, wenn man sich keine Illusion über seinen Feind macht.
Um ein völlig zufälliges Beispiel heranzuziehen, nehmen wir an, ich möchte das von Bill Gates angeführte Technokratievorhaben aufhalten, jeden Menschen auf Erden zu überwachen, zu injizieren, nachzuverfolgen und zu kontrollieren und seine biometrischen Daten, Bewegungsdaten und physiologischen Daten in Echtzeit in eine zentralisierte Datenbank einzuspeisen, die dann Privilegien und Einschränkungen erteilen kann, die für die Sicherheit aller sorgen. Um dies zu verhindern, sollte ich erst einmal verstehen, warum es passiert. Wenn ich mir sage, dass Bill Gates und Konsorten schlicht und einfach Unmenschen sind, die darauf aus sind, andere leiden zu lassen, werde ich vieles übersehen. Allem voran wäre ich blind für die Gründe, warum diese Menschen so technologieverliebt sind. Ich würde mir nicht die implizite Mythologie ansehen, die Fortschritt mit Kontrolle gleichsetzt. Ich würde mir nicht die kulturellen Muster der Herrschaft vergegenwärtigen. Stattdessen würde ich eine Karikatur bekämpfen und nicht den Feind selbst.
Nach allem, was ich weiß, glaubt Bill Gates inständig, dass er zum Wohle der Menschheit handelt. Er ist von seiner öffentlichen Identität als Philanthrop überzeugt. Er sieht sich als Freund der Menschheit. Sein Herz schwillt vor aufrichtiger Selbstgewissheit. Er kann gut begründen, warum er bestimmte Dinge getan hat, von denen sogar er selbst weiß, dass sie falsch waren. Über manche Dinge denkt er vielleicht lieber einfach gar nicht nach. Kurz: Vielleicht ist er gar nicht so anders als du und ich. Seine Vision für die Zukunft kann ich nur zutiefst ablehnen; deshalb denke ich, er ist ein gefährlicher Mensch. Aber ein böser? Das weiß ich nicht. Wie könnte ich das sicher wissen? Der tief verinnerlichte Hollywood-Mythos des Bösen könnte mich verleiten, ihn als solchen zu sehen. Aber könnte ich ihm nicht wirksamer entgegentreten, wenn ich mir seiner wirklichen Beweggründe bewusst wäre, oder wenigstens bereit wäre, nach ihnen zu suchen? Um das zu tun, muss ich allerdings bereit sein, ihn als vollkommen menschlich anzusehen. Das bedeutet nicht schwach zu werden und ihn einfach gewähren zu lassen. Ganz im Gegenteil. Wir werden uns wirkungsvoller, nicht weniger wirkungsvoll, gegen Unterdrückung jeglicher Art wehren können, wenn wir die Natur unserer Unterdrücker verstehen und ihre Handlungen nicht länger fälschlicherweise als „böse“ bezeichnen. Damit eröffnen wir die Möglichkeit, dass sie auch uns wieder als Menschen sehen, und dass etwas anderes als der Sieg der einen Gruppe über die andere die Zukunft bestimmen wird.
Das trifft auch dann noch zu, wenn manche Menschen tatsächlich böse sind. Mit Sicherheit gibt es einige wirkliche Psychopathen unter den Eliten, aber auch normale Menschen können, vergiftet durch Ideologie und Macht, eine abscheuliche Politik umsetzen. Umgekehrt können wir nicht davon ausgehen, dass Wissenschaftler und Entscheidungsträgerinnen immun gegen die Massenpsychologie sind, nur weil die meisten von ihnen anständige Menschen sind. Die Massenpsychologie organisiert Glauben und Handlungen rund um ihre Zwänge, wobei sie endlose Rationalisierungen, Rechtfertigungen und Vorwände hervorbringt. Gute Menschen können Böses tun, während sie fest von ihrer eigenen Rechtschaffenheit überzeugt sind. Um mit solchen Menschen zu sprechen, müssen wir lernen, in Frage zu stellen, ob sie Recht haben, ohne ihnen ihren Anstand abzusprechen.
Jetzt ist nicht die Zeit, still zu halten und die Köpfe einzuziehen. Es ist an der Zeit, aufzustehen und den Mund aufzumachen, und unsere Worte werden machtvoller sein, wenn wir zu den echten Menschen sprechen, die hinter unseren Projektionen stehen.
Überwindung aus dem Westen
Girard argumentiert, dass die einmütige Gewalt, die den Kreislauf der gegeneinander gerichteten Gewalt durchbrechen konnte, Rituale, Kulturen und Religionen hervorgebracht hat. Doch gerade durch die Religion können wir uns von diesem Muster befreien, bei dem revolutionäre Energie auf einen Sündenbock nach dem anderen abgelenkt wird.
Ich bringe nun je ein Beispiel aus Ost und West. Zuerst aus dem Westen: Die Christusgeschichte scheint auf den ersten Blick in das Schema vom rituellen Opfer zu passen, in Wahrheit aber bricht sie diese auf. Im Sündenbockdenken muss das Opfer mit einer Art von Verunreinigung in Verbindung gebracht werden, so dass diese „Verunreinigung“ dann rituell beseitigt werden kann. Die christliche Lehre besteht auf die Sündenfreiheit Jesu, auf seiner Reinheit und Göttlichkeit. Konfrontiert mit einem aufständischen Volk und einem von sozialen Spannungen zerrütteten Land, wusste Pontius Pilatus, was zu tun war: aufgebrachten Volk ein Opfer darbringen. Der Frieden, der folgen würde, würde die Rechtmäßigkeit der Bluttat belegen. Aber die Jesusgeschichte folgt nicht den üblichen Gesetzmäßigkeiten. Anders als in den meisten Mythen (Batman besiegt Joker und rettet Gotham; Superman tötet Lex Luthor und rettet die Welt; die Avengers töten Thanos und retten das Universum, Politiker retten uns vor Terroristen und den bildungsfernen Schichten), ist in dieser Geschichte das Opfer der Inbegriff der Unschuld. Seine Unschuld verdeutlicht, dass die Schuldfrage für die Blutgier der Massen keine Rolle spielt. Und so bezeugt die Unschuld Jesu die Unschuld eines jeden, auch des Schuldigen, der je zum Opfer der Massen wurde. Wie Heim sagt: „Jeder Mensch kann glaubhaft zum Sündenbock gemacht werden und kein Mensch kann gewinnen, wenn sich die Gemeinschaft gegen ihn wendet.“
Vergebung ist die wesentliche Lehre des Christentums. Richtig verstanden ist Vergebung keine Art der Nachsicht, nach dem Motto Du bist zwar böse, aber ich vergebe dir trotzdem. Vergebung entspringt vielmehr einer plötzlichen Erkenntnis: „Wäre ich in deiner Situation, hätte ich vielleicht genau das auch getan, was du getan hast.“ Mit anderen Worten: Sie entspringt einem gefühlten Wiedererkennen unser gemeinsamen Menschlichkeit. Genau diese Einsicht verhindert hartes Urteilen. Einige der eindrucksvollsten Stellen in den Evangelien handeln von Vergebung und Verurteilung. Am Kreuz sagt Jesus über seine Peiniger: „Vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er sagt nicht: „Vergib ihnen, Vater, denn du bist ein netter Gott, der zweite Chancen gibt, also sei bitte milde mit ihnen.“
Die Grausamkeiten der Menschheit können nicht auf einige wenige Psychopathen auf der Erde geschoben werden. Auch Millionen wirklich guter Absichten enden in der Tragödie. Aber warum? Weil sie nicht wissen, was sie tun. In der Kreuzigungsszene wissen sie nicht, dass der Mann, den sie kreuzigen, unschuldig ist. So ist es jedes Mal, wenn wir jemanden zum Opfer machen. Selbst wenn sich diese Person eines Verbrechens schuldig gemacht hat, ist sie in der Regel nicht all der entmenschlichten Eigenschaften schuldig, die wir ihr im Opferprozess zuschreiben.
Es liegt in der Natur der organisierten Religion, dass ihre Institutionen dazu neigen, das genaue Gegenteil ihrer zentralen esoterischen Prinzipien zu leben.[iv] So kommt es auch, dass das Christentum seinesgleichen sucht, wenn es um Verurteilung, Abwertung, Entmenschlichung und Sündenbockdenken geht. Aus der Geschichte wird das ganz deutlich: Die Inquisition, die Hexenverfolgung, die Versklavung von Afrikanern, der Genozid an indigenen Völkern und die Unterwerfung von Frauen geschahen alle mit der offiziellen Billigung der Kirche. Trotzdem fordern die ursprünglichen Lehren uns immer noch zur Überwindung genau solcher Dinge auf. Mark Heim sagt:[v]
Erlösende Gewalt – die Art von Gewalt, die für sich beansprucht, dem Wohle der Vielen zugute zu kommen, heilig zu sein, die rätselhafte Grundlage menschlichen Lebens selbst zu sein – erweckt immer den Anschein, die Sünde an sich zu überwinden (indem sie die Beschmutzung entfernt und den Sünder bestraft, der der Gesellschaft Unheil gebracht hat). Die Sünde, die sie typischerweise zu überwinden behauptet, ist das Vergehen des Sündenbocks, das Verbrechen, das das Opfer begangen hat. Aber in der Passionsgeschichte ist es die Sünde der Verfolger, die im Mittelpunkt steht. Es ist nicht die Sünde des Einen, der die Vielen in Gefahr bringt, sondern die Sünde der Vielen gegen Einen. In der Passionsgeschichte wird die erlösende Gewalt klar und deutlich als die eigentliche Sünde erkennbar, die überwunden werden muss.
Sobald der Weg zur erlösenden Gewalt geebnet ist, wird sie durch eine gemäßigte Ansprache vermutlich nicht mehr aufzuhalten sein. Wir müssen früher ansetzen und ihr den Boden entziehen. Wir müssen uns abgewöhnen zu hassen, zu lästern, zu verurteilen, andere als psychisch krank darzustellen, zu beschimpfen oder auf andere Weise zu entmenschlichen. Und wir müssen aufhören, das Leben als einen Kampf zu sehen. Der Kampf, der Krieg ist eine Linse, die wenig enthüllt und vieles verdunkelt. Sie zeigt die Wirklichkeit in den gewohnten Farbtönen – schwarz und weiß, wir und die, gut und böse. Das Bild ist vertraut, ja sogar betörend. Aber für viele von uns ist es nicht länger angenehm und fühlt sich nicht mehr wahr an. Zum Teil ist es Aussichtslosigkeit, zum Teil Erschöpfung, die uns bewegt uns von der Debatte, der Kampagne, dem Kreuzzug zurückzuziehen. Aus dieser Erschöpfung, dem Burnout und dem Aufgeben werden neue Möglichkeiten geboren.
Aufgeben heißt nicht vor der anderen Seite kapitulieren. Aufgeben bedeutet, Probleme nicht mehr als Gegensatz zweier Lager zu sehen und als Frage von Gewinnen und Verlieren darzustellen; der Wahrheit und nicht mehr dem Sieg zu dienen. Die Lüge hinter jedem harten Urteil lautet: „Wäre ich in genau deiner Situation, hätte ich anders gehandelt.“ Aber kannst du dir da jemals wirklich sicher sein? Oder beruht dieses Urteil nicht auf einer Selbsttäuschung?
Überwindung aus dem Osten
Die religiösen Traditionen des Ostens tragen ähnliche Früchte, doch von einem anderen Baum. Dieser Baum ist die Auflösung starrer binärer Unterscheidungen, insbesondere zwischen dem Selbst und dem Anderen. Das Daodejing (Tao Te Ching) beispielsweise beginnt mit einem Satz über die Nicht-Ausdrückbarkeit absoluter Wahrheit und beschreibt, im zweiten Vers, die gegenseitige Abhängigkeit und das zeitgleiche Entstehen von Gegensätzen. Aber an dieser Stelle will ich das buddhistische Prinzip des Interbeing heranziehen.
Interbeing bedeutet, dass Existenz gleich Beziehung ist. Wir sind voneinander, von den Regenwäldern, der Sonne, dem Wasser und der Erde nicht einfach abhängig, nein, sie sind sogar Teil unseres eigenen Seins. Wenn also ein Regenwald gerodet wird, oder das kleine Wäldchen nahe deinem Haus, dann stirbt auch etwas in dir. Deshalb schmerzen die Dinge, die heute täglich auf der Welt geschehen, so sehr. Sie widerfahren jedem von uns.
Interbeing bedeutet, dass Außen und Innen einander spiegeln und enthalten. Ein Land, das Gewalt in die Welt bringt, wird auch häusliche Gewalt erfahren. Eine Nation, die Millionen ihrer Bürger einsperrt, kann nicht frei sein. Niemand kann in einer kranken Welt ganz gesund sein. Und die Dinge, die wir am meisten an anderen verurteilen, leben in irgendeiner Form in uns selbst. Der ehrwürdige Meister Thich Nhat Hanh vermittelt dieses Prinzip sehr wortgewandt in seinem Gedicht „Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen“. Hier sind ein paar Verse:
Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,
meine Beinchen so dünn wie Bambusstöcke;
und ich bin der Waffenhändler,
der todbringende Waffen nach Uganda verkauft.
Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht;
und ich bin auch der Pirat –
mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.
Ich bin ein Mitglied des Politbüros,
mit reichlich Macht in meinen Händen;
und ich bin der Mann, der seine „Blutschuld“ an sein Volk zu zahlen hat,
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.
Meine Freude ist wie der Frühling, so warm,
dass sie Blumen auf der ganzen Erde erblühen lässt.
Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom, so mächtig,
dass er alle vier Meere auffüllt.
Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich all mein Weinen und Lachen
zugleich hören kann,
damit ich sehe,
dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.
Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich erwache,
damit das Tor meines Herzens
von nun an offensteht –
das Tor meines Mitgefühls. [vi]
Sollten wir jemals die Lage der Menschheit, wie wir sie kennen, überwinden wollen, dann müssen wir anfangen, dem Plädoyer großer Lehrer wie Thich Nhat Hanh tatsächlich zu folgen. Die „wahren Namen“, mit denen er angesprochen werden möchte, schließen meinen Namen und deinen Namen mit ein. Wenn wir das Böse in anderen verorten und sie dann zerstören in der Hoffnung das Böse zu zerstören, dann verbannen wir die Teile unseres Selbst in das Unterbewusstsein, die wir auf unsere Feinde projizieren. Dort vervielfachen sich diese Schatten und dringen von innen in das Leben, bis der Tag kommt, an dem sie in einem Ausbruch von Gewalt die Kontrolle übernehmen.
Das „Tor des Mitgefühls“ ist das Auflösen der trennenden Barrieren. Es liegt Wahrheit in „Ich bin das Mädchen. Ich bin der Pirat. Ich bin der Waffenhändler.“ Es liegt auch Wahrheit in „Ich bin keiner von ihnen”; aber während die letztere Wahrheit andauernd durch die moderne Ideologie, Systeme und die Wirtschaft bekräftigt wird, geht die Wahrheit der Nichtgetrenntheit verloren. Es ist Zeit, sie zurückzuerobern. Heißt das, wir lassen Piraten und Waffenhändler weiter ihr Geschäft ausüben? Natürlich nicht. Aber wir beladen sie nicht mit allen erdenklichen Übeln und hoffen, die Welt vom Bösen zu befreien, indem wir die Welt von Piraten befreien.
Ich möchte alle, die in den Konflikten unserer Zeit für eine Seite Partei ergriffen haben, bitten, ihre Loyalität zu wechseln. Nicht zur anderen Seite, sondern vom Siegenwollen in die Liebe. Vielleicht glauben Sie, dass Ihr Anliegen, zum Beispiel als Impfbefürworterin oder Impfgegner, genau das ist: Liebe in Aktion. Und vielleicht ist es das. Wenn immer Sie aber merken, dass Ihre Seite mit Hass arbeitet, dann wissen Sie, dass Ihre erste Loyalität dem Sieg gilt.
Vielleicht kann eine Seite wirklich die Schlacht für sich gewinnen, indem sie Abscheu vor den Übeltätern auf der anderen Seite schürt und sie verteufelt, aber sie wird damit den Pegel der Abscheu in der Welt erhöhen, und die Gesellschaft wird umso empfänglicher für Manipulation und Gewalt werden.
Ist Ihnen Heilung wichtiger als Siegen? Sind Sie bereit eine Lösung anzunehmen, bei der die Gesellschaft geheilt, aber die Übeltäter niemals bestraft werden und Ihre Ansicht niemals bestätigt wird? In der Sie niemals die Genugtuung bekommen zu hören, dass Sie die ganze Zeit über Recht hatten? Wo es keinem Ihrer Gegner jemals leid tut, was er getan hat? Wo Sie selbst vielleicht im Bezug auf eine Sache, die Ihnen am Herzen lag, Ihren eigenen Fehler gewärtigen müssen?
Der Ring der Macht
Kürzlich hörte ich mir mit meinem Sohn Cary eine fantastische Hörbuchfassung von J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ an. In dem Buch schlägt Boromir vor, die Macht des Einen Ringes gegen den Fürst der Finsternis, Sauron, anzuwenden. Nein, rät Gandalf. Wenn wir das tun und gewinnen, wird, wer auch immer dann im Besitz des Ringes ist, zum neuen Fürsten der Finsternis werden, weil der Ring ganz und gar böse ist. Jemand schlägt vor, den Ring zu verstecken, doch Gandalf sagt, nein, er wird wiedergefunden werden, und wir wollen einen Sieg über das Böse, der die Gegenwart überdauert.
Gestatten Sie mir diese Analogie. Der Eine Ring ist die Entmenschlichung. So beherrschen die dunklen Mächte diese Erde: Sie bringen uns dazu, uns gegenseitig zu entmenschlichen. Er ist eine wirklich mächtige Waffe, und wir könnten sie tatsächlich gegen unsere Regierenden einsetzen, um sie zu stürzen. Aber man kann sich leicht vorstellen, wie die neuen Herrschenden wären: so sicher, im Recht zu sein, so sicher, dass die, die gegen sie stehen, das Böse verkörpern, so geübt in der Kunst von Spott und Hohn, während sie über entwürdigende Karikaturen von ihren Gegnern lachen.
Die, die den Einen Ring in Händen hält, sagt: „Los, lasst uns gemeinsam die bösen Menschen demütigen!“ Sie beschwört die Macht der Massen und entfesselt sie gegen ihre Gegner. Alles für eine gute Sache, die Freiheit, die Gerechtigkeit, und nur solange, bis das Gute endlich gesiegt hat. Unglücklicherweise füttert sie damit genau dasjenige Ungeheuer, das sie umzustürzen strebt. Sie wird immer Angst vor ihm haben. Sie wird versuchen, den Mob nicht aufzulösen, sondern ihn zu lenken, um nicht selbst dessen nächster Sündenbock zu werden. Der Ring verschlingt seine Trägerin. Lasst uns stattdessen den Einen Ring zurück ins Feuer werfen, aus dem er kam. Aber wie? Durch Milliarden täglicher Interaktionen, im privaten und öffentlichen Diskurs. Es gibt noch ein Werkzeug, das wir nutzen können, das größer ist als die Entmenschlichung. Wir können es Liebe nennen. Sie kommt in vielen Formen und zehrt von der Wahrnehmung des jeweils anderen in seiner göttlichen Menschlichkeit (dem Christus) und unserer grundlegenden Untrennbarkeit (Interbeing). Sie kann in der Gestalt von Höflichkeit, Humor oder gesundem Menschenverstand erscheinen. Sie kann Wut ohne Hass ausdrücken, Verantwortlichkeit ohne Schuldzuweisung, Wahrheit ohne Selbstgerechtigkeit. Sie öffnet andere für das Zuhören: Wenn sie spüren, dass sie nicht angegriffen werden, sehen sie weniger Notwendigkeit sich zu verteidigen. Der Liebe ist es wichtiger zu verbinden als zu überzeugen, was ihr die verblüffende Macht verleiht, einen Sinneswandel sehr viel wirksamer herbeizuführen als jeder Frontalangriff mit Beweisen und Logik es könnte. Um dieses Werkzeug in Händen zu halten, müssen wir gewillt sein, uns selbst von dieser Kraft verwandeln zu lassen – die Bereitschaft dazu allein ist schon eine machtvolle Einladung. Was glauben Sie, aus welchem Grunde sollte jemand sonst seine Ansichten ändern? Das ist die Art von Demut, die daraus entspringt, andere in ihrer ganzen Menschlichkeit wahrzunehmen. Durch sie können wir die Macht des Wortes, die Macht der Einigung, die Macht der Kohärenz wiedergewinnen. Indem wir einander heiligen, werden wir diese Erde zum Tempel mache
[i] Ich bin ich mir durchaus der Kritik von Tom Cowan, Andy Kaufman und Stefan Lanka an der viralen Keimtheorie bewusst. Während ich überzeugt bin, dass sie einige wichtige unbeantwortete Fragen aufgreifen, beruht der überwiegende Teil ihrer Argumente, nach allem, was ich gesehen habe, auf einem Missverständnis davon, wie virale Genome sequenziert werden. Ich möchte an dieser Stelle lediglich dem Leser versichern, dass ich ihre Kritik kenne.
[ii] Meiner Ansicht nach hat die Keimtheorie ernstzunehmende Schwächen, da sie Pathogene als die Hauptursache ansteckender Krankheiten in den Mittelpunkt rückt. Während dieser Blickwinkel einige Erkenntnisse ermöglicht, lässt sie wesentliche Probleme im Schatten, wie beispielsweise die Koevolution zwischen Keim und Wirt, Symbiose, die vorteilhaften Gentransfer und die Vorteile einer Herausforderung für das Immunsystem. Besonders vernachlässigt wurde die Terraintheorie, die die körperlichen Voraussetzungen untersucht, unter denen Krankheit erblüht, und die im Standarddenken auf die einfache Frage reduziert wird, ob jemand ein starkes oder schwaches Immunsystem besitzt.
[iii] Hinzu kommen Kommentarspalten, die ähnliche Erfahrungsberichte von unerwünschten Ereignissen enthalten, die von Ärzten nicht anerkannt wurden. Einige Instagram-Kanäle, die inzwischen entfernt wurden, enthielten hunderte oder gar tausende solcher Erfahrungsberichte. Man kann sie leicht als das Werk „hysterischer Impfgegner“ abtun, aber auch hier gilt: Kann irgendjemand das wirklich wissen?
[iv] Das zentrale Prinzip der Wissenschaftsreligion ist die Bescheidenheit; folglich ist ihr institutioneller Ausdruck die Arroganz.
[v] S. Mark Heim: „Das Ende des Sündenbockdenkens“. Institute for Faith and Learning at Baylor University, 2016. https://www.baylor.edu/content/services/document.php/264317.pdf
[vi] Auszug aus: Thich Nhat Hanh: Nenne mich bei meinen wahren Namen. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. Ursula Richard. MensSana bei Knaur, 2010.