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Kapitel 24: Lust

March 18, 2014 by Charles Eisenstein

March 2014


Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich

Kapitel

  • Einführung
  • Kapitel 1: Separation
  • Kapitel 2: Zusammenbruch
  • Kapitel 3: Interbeing
  • Kapitel 4: Zynismus
  • Kapitel 5: Wahnsinn
  • Kapitel 6: Gewalt
  • Kapitel 7: Wissenschaft
  • Kapitel 8: Klima
  • Kapitel 9: Verzweiflung
  • Kapitel 10: Hoffnung
  • Kapitel 11: Morphogenese
  • Kapitel 12: Naivität
  • Kapitel 13: Echtheit
  • Kapitel 14: Geist
  • Kapitel 15: Orthodoxie
  • Kapitel 16: Das Neue
  • Kapitel 17: Dringlichkeit
  • Kapitel 18: Knappheit
  • Kapitel 19: Tun
  • Kapitel 20: Nicht-Tun
  • Kapitel 21: Aufmerksamkeit
  • Kapitel 22: Kampf
  • Kapitel 23: Schmerz
  • Kapitel 24: Lust
  • Kapitel 25: Urteil
  • Kapitel 26: Hass
  • Kapitel 27: Rechtschaffenheit
  • Kapitel 28: Psychopathie
  • Kapitel 29: Das Böse
  • Kapitel 30: Geschichten
  • Kapitel 31: Unterbrechung
  • Kapitel 32: Wunder
  • Kapitel 33: Wahrheit
  • Kapitel 34: Bewusstsein
  • Kapitel 35: Bestimmung
  • Kapitel 36: Initiation

Kapitel 24: Lust

Also gut, wenn nun Aufmerksamkeit das Werkzeug ist, um mit Schmerz auf der persönlichen und der sozialen Ebene zu arbeiten, wie arbeiten wir dann mit Lust? Lust ist, erinnern Sie sich, ist unter anderem das Gefühl, das sich einstellt, wenn ein Bedürfnis erfüllt wird. Je stärker das Bedürfnis, desto größer die Lust. Um diesem Prinzip zu folgen, braucht es zuerst die Anerkennung, dass unsere Bedürfnisse zulässig und sogar schön sind. Und nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern auch unser Verlangen, das ja von unerfüllten Bedürfnissen herrührt. Halte die Luft an, und dein Bedürfnis nach Sauerstoff erzeugt ein Verlangen zu atmen. Verbleibe zu lange in einem öden Job, und dein Bedürfnis zu wachsen wird ein Verlangen wecken, aus der Beengtheit freizubrechen. Die Gesellschaft versucht, diesen Drang auszubrechen einzugrenzen oder ihn in etwas Unwichtiges umzuleiten, wie einen Rausch, Videospiele oder Bungee-Jumping, aber was sind solche Vergnügen verglichen mit der überschäumenden Weite echter Freiheit?

Der Lust zu trauen heißt, Normen und Glaubenssätze in Frage zu stellen, die so tief sitzen, dass sie sogar Teil unserer Sprache selbst geworden sind. Ich habe schon die Gleichsetzung von “schwierig” mit “gut” und “leicht” mit “schlecht” erwähnt. Die Tatsache, dass Wörter wie “eigennützig” und “hedonistisch” als herabwürdigende Ausdrücke gelten, ist auf die gleiche Grundannahme zurückzuführen. Aber die Logik des Interbeing sagt uns, dass Intimität, Verbundenheit, Freigiebigkeit und der Dienst an etwas, das größer ist als wir selbst, zu unseren stärksten Bedürfnissen zählen. Damit wird die Erfüllung dieser Bedürfnisse zur Quelle unserer größten Lust.

Lust und Verlangen sind ein natürliches Orientierungssystem, das Organismen zu Nahrung, Wärme, Sex und anderen Dingen führt, die ihre Bedürfnisse befriedigen. Bilden wir uns etwa ein, die Natur hätte bei uns eine Ausnahme gemacht? Oder stellen wir uns vor, wir wären über dieses Orientierungssystem hinausgewachsen auf eine höhere Ebene, auf der die Lust nicht länger Verbündete sondern Feindin ist? Nein. Das ist eine Gedankenform der Separation. Auch in uns wirkt Lust als eine Orientierungshilfe. Das endet nicht bei den grundlegenden tierischen Bedürfnissen wie Nahrung, Sex und Unterschlupf. In all ihren Ausprägungen leitet sie uns zur Erfüllung unserer Bedürfnisse und Wünsche und damit zur Entfaltung unseres Potentials.

Ihr nach all diesen Jahrhunderten wieder zu vertrauen, heißt sich auf eine Reise zu begeben, die für die am meisten entfremdeten unter uns mit der bewussten und absichtlichen Erfüllung irgendeiner gerade verfügbaren trivialen Lust beginnen kann, um die Gewohnheit des Selbst-Vertrauens aufzubauen. Wenn wir diesen Muskel des Urteilsvermögens trainieren und er stärker wird, können wir ihn verwenden, um immer größere Lust zu wählen, die der Erfüllung immer tieferen Verlangens entspricht. Aus gutem Grund haftet dem Hedonismus immer schon etwas leicht Subversives an. Sich für die Lust zu entscheiden, und sei sie noch so oberflächlich, und diese Wahl anzunehmen und zu feiern, heißt, einen Prozess anzustoßen, der die Geschichte von der Welt auf den Kopf stellt. Auf lange Sicht werden die oberflächlichen Lüste langweilig und unbefriedigend, und wir gehen zu der Art von Lust über, die wir Freude nennen.

Diesen Weg zu verfolgen ist ein Stoß ins Herz des Programms der Kontrolle, und empört die Intuitionen eines jeden, der von dieser Geschichte beeinflusst ist. Bilder von den Konsequenzen einer ungezügelten Jagd nach Lust kommen einem in den Sinn: Vergewaltigung und sexueller Missbrauch, Fresssucht, Heroin- und Crack-Rauchen, Sportwagen und Privatjets… für die Sadisten gibt es sogar die Lust an Folter und Tötung. Charles, gewiss kannst du nicht ernstlich das Lustprinzip gutheißen. Bestimmt muss es durch Mäßigung, Balance und Selbstbeherrschung ausgeglichen werden.

Ich bin nicht sicher. Zum einen können wir fragen, wie viele Menschen überhaupt wirklich nach dem Lustprinzip leben? Wie oft hält jemand vor einer Entscheidung inne und fragt ehrlich: “Was würde sich für mich wirklich gut anfühlen? Welches Handeln wäre genau jetzt ein wahrhaftes Geschenk an mich selbst?”? Ich befürworte eine Hingabe an die Lust, die uns nahezu unbekannt ist.

Vielleicht ist Lust nicht genau das richtige Wort dafür; vielleicht sollte ich das Wort Freude verwenden, doch möchte ich betonen, dass Lust und Freude nicht getrennt sind, und die eine der anderen nicht im Weg steht; sie befinden sich vielmehr auf einem Kontinuum. Rufen Sie sich einen Moment echter Freude oder Verbundenheit vor Augen, einen Moment am Sterbebett eines geliebten Menschen etwa, oder den bahnbrechenden Moment der Vergebung, die eine jahrzehntealte Feindschaft davonschmelzen lässt. Ich erinnere mich noch daran, als ich einmal ein Reh im Wald traf, wir standen nur ein paar Meter voneinander entfernt und schauten einander an. Und ich denke an meinen achtjährigen Sohn Philip, der mich beim Absetzen an der Schule lange und unschuldig ansah, und dann aus heiterem Himmel sagte: “Papa, ich habe dich lieb.” Sie haben Momente wie diese erlebt: die Freude der Verbundenheit, die kurzzeitige Auflösung der Getrenntheit. Rufen Sie sich einen solchen vor Augen und vergleichen ihn mit dem Gefühl beim Verschlingen von Keksen, beim Betrachten pornographischer Bilder oder beim wütenden Umsichschlagen. Gemessen daran, was sich am allerbesten anfühlt, was würden Sie wählen? Welches davon ist das beste Geschenk an Sie selbst?

Können Sie sehen, dass unsere Begriffe von Eigennutz und Selbstbeherrschung auf den Kopf gestellt worden sind? Können Sie die Ungeheuerlichkeit des an uns verübten Verbrechens sehen, das uns von unserer Orientierungshilfe zur Wiedervereinigung abschneidet?

Die schönere Welt, von deren Möglichkeit mein Herz weiß, ist eine Welt mit viel mehr Lust: viel mehr Berührung, viel mehr Liebesspiel, viel mehr Umarmungen, viel mehr tiefem einander in die Augen schauen, viel mehr duftendem, selbst gemachtem Brot, viel mehr frisch geernteten Tomaten, die noch von der Sonne warm sind, viel mehr Singen und Tanzen, viel mehr Zeitlosigkeit, viel mehr Schönheit in unser Wohnumgebung, viel mehr unberührten Ausblicken, viel mehr frischem Quellwasser. Haben Sie jemals echtes Wasser geschmeckt, das nach zwanzigjähriger Reise durch den Berg direkt aus der Erde sprudelt?

Keine dieser Freuden ist sehr weit entfernt. Keine benötigt neue Erfindungen, oder die Unterordnung der Vielen unter die Wenigen. Und doch mangelt es unserer Gesellschaft an ihnen allen. Unser sogenannter Wohlstand ist eine Verschleierung für unsere Armut, ein Ersatz für das, was uns fehlt. Und weil er die meisten unser wahren Bedürfnisse nicht erfüllen kann, ist er ein suchterzeugender Ersatz. Keine noch so große Menge kann je genug sein.

Viele von uns durchschauen schon die Oberflächlichkeit der Ersatzvergnügen, die uns angeboten werden. Sie langweilen uns oder stoßen uns gar ab. Wir müssen keine Lust opfern, um sie abzulehnen. Wir müssen bloß die tiefsitzende Gewohnheit opfern, eine geringere Lust statt einer größeren wählen. Woher kommt diese Gewohnheit? Sie ist ein essentieller Strang in der Welt der Separation, denn die meisten der Aufgaben, die wir verrichten müssen, um die weltverschlingende Maschine am Laufen zu halten, fühlen sich überhaupt nicht gut an. Um sie weiter zu verrichten, müssen wir darin trainiert werden, uns die Lust vorzuenthalten.

Nur unter großen Schwierigkeiten konnte man die Arbeiter der frühen Industriellen Revolution dazu veranlassen, in Fabriken zu arbeiten. Die organischen Rhythmen des natürlichen Lebens mussten der Monotonie der Maschine geopfert werden; die Geräusche der Natur, der Kinder und die Ruhe mussten dem Fabriklärm geopfert werden; die zeitliche Selbstbestimmung eines jeden musste der Stechuhr geopfert werden. Daher wurde rund um die Selbstverleugnung ein ganzes System von Bildung und Moralität konstruiert. Noch heute leben wir darin.

Seien wir also vor jeder Revolution auf der Hut, in der es nicht auch Elemente von Spiel, Feiern, Mysterium und Humor gibt. Wenn es vor allem ein verbissener Kampf ist, dann handelt es sich womöglich überhaupt nicht um eine Revolution. Das bedeutet nicht, dass es niemals eine Zeit für Kampf gibt, aber den transformativen Prozess hauptsächlich als Kampf zu gestalten, reduziert ihn auf etwas aus der alten Welt. Andere Teile des Prozesses werden dadurch entwertet: die Reifung, das Abwarten, das Zu-sich-Kommen, das Atmen, die Leere, die Beobachtung, das Lauschen, das Nähren, die Reflexion, die spielerische Erkundung, das Nichtwissen. Ist es nicht das, wovon wir auf dieser Erde ein wenig mehr gebrauchen könnten?

Die Rückbesinnung auf die Lust kann ein langer Prozess sein, der für jeden von uns einzigartig ist und im eigenen Rhythmus und mit der eigenen Geschwindigkeit voranschreitet. Es gilt nicht heroisch alle Furcht zu überwinden, Zurückhaltung außer Acht und alle Vorsicht fahren zu lassen und alle Beschränkungen zu durchbrechen. Diese Art der Überschreitung schmeckt nach der alten Geschichte. Furcht ist nicht der Feind Numer eins, wie manche spirituellen Lehrer uns glauben machen: das neue Böse, das es zu überwinden gilt, anstelle alter Buhmänner wie Sünde oder Ego. Furcht begrenzt Wachstum, das stimmt, aber sie grenzt auch eine Sicherheitszone ab, innerhalb derer Wachstum geschehen kann. Erst wenn das Wachstum an diese Grenzen stößt, ist es Zeit sie zu durchbrechen. Das Gefühl also, nach dem wir Ausschau halten, ist eine Furcht, die sich ein wenig überflüssig anfühlt, ein neuer Schritt, den Sie zu gehen bereit sind. Wenn Sie eine in Betracht ziehen, sollte die Furcht auch den Beigeschmack freudiger Erregung haben und nicht mit allzu großen Ängsten verbunden sein.

Wir könnten diese Idee auch auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen anwenden, die wir gern in die neue Geschichte einladen möchten. Verkäufer verstehen es, die Macht unerfüllter Bedürfnisse zu beschwören und diese mit irgendeinem Produkt in Verbindung zu bringen, das sie angeblich erfüllt. Wie ungleich wirkmächtiger wäre es dann, die unerfüllten Bedürfnisse zu sehen und den Menschen etwas anzubieten, das diese tatsächlich befriedigen würde. Wir können üben, die unerfüllten Bedürfnisse und nicht zum Ausdruck gekommenen Begabungen in anderen Menschen zu sehen. Dann können wir diese Bedürfnisse erfüllen oder Möglichkeiten für deren Erfüllung schaffen. Darin liegt schon ein großer Teil dessen, was Führung in einer weniger hierarchischen Welt ausmacht: Eine Führungsperson ist jemand, der den anderen Gelegenheiten eröffnet, ihre Geschenke zu machen.

Eine andere Möglichkeit, die Erfüllung der Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu sehen, ist, dass wir ihrer Lust, ihrer Freude und ihrer Zufriedenheit dienen. Und wie sich unsere Einsicht, was diese sind, vertieft, entwickeln sich auch die Bedürfnisse, die wir zu erfüllen suchen. Natürlich hängt unsere Fähigkeit, diese Bedürfnisse zu sehen, davon ab, dass wir sie in uns selbst erfüllt haben – wie man es in einer Welt des Interbeing erwarten würde.

Ich hoffe, es ist klar geworden, wie diese Philosophie sich von dem unterscheidet, was wir normalerweise als Hedonismus bezeichnen (auch wenn ich denke, dass unsere reflexartige Verachtung für Hedonismus ein Symptom unserer Selbstablehnung ist). Ich erzähle Ihnen nicht, Sie sollten häufiger Zigaretten, Schnaps und Gelegenheitssex frönen. Ich sage: “Fühlen Sie sich frei, diese Dinge zu tun, soviel Sie sie wirklich wollen.” Wenn wir sie mit voller Erlaubnis und ohne Schuld tun, finden wir vielleicht heraus, dass sie gar nicht das waren, was wir wirklich wollten, oder vielleicht entwickelt sich das Verlangen durch seine Erfüllung in etwas anderes.

Vor Jahren habe ich mal eine Frau (nicht gewerbsmäßig) beraten, die versuchte, von Ritalin und ihrem zwanghaften Verhalten gegenüber Männern in ihrem Leben loszukommen. Sie rief ihre Ex-Partner zwanghaft bis zu hundert Mal täglich an oder schickte ihnen Textnachrichten. Sie begann, mich immer häufiger anzurufen und fragte: “Sie glauben doch nicht, dass ich verrückt bin, oder? Wird es mir wirklich möglich sein, diese Sucht zu lassen und ein normales Leben zu führen?” Und: “Rufe ich zu oft an? Vielleicht vertreibe ich Sie ja wie alle anderen.”

Ich sagte ihr: “Ich vertraue Ihnen, dass Sie mich dann anrufen, wenn es wirklich zu Ihrem Besten ist. Bitte rufen Sie mich ruhig an, wann immer Sie es wirklich wollen.” Danach hörte sie auf, mich so oft anzurufen. Indem ich ihr die Erlaubnis gab anzurufen, wann immer sie wollte, gab ich ihr ebenfalls unterschwellig die Erlaubnis, nicht anzurufen, wenn sie es nicht wahrhaftig wollte.

Für gewöhnlich tritt zerstörerisches, vergnügungssüchtiges Verhalten als Ausbruch von angestautem Verlangen zutage und nicht als Ausdruck eines authentischen Wunsches. Der Skandal um die pädophilen katholischen Priester zeigt, wie gesundes sexuelles Verlangen, das unterdrückt wird, sich einen anderen Weg sucht. Das gilt auch viel allgemeiner. Was sind die Folgen der Unterdrückung unsere Drangs nach Kreativität, Hilfsbereitschaft, Intimität, Verbundenheit und Spiel? Was wir Hedonismus nennen, ist ein Symptom dieser Unterdrückung. Das Symptom auch zu unterdrücken, heißt lediglich, diese Verlangens-Energie auf eine andere, destruktivere Bahn lenken, oder aber sie wird sich als Krebs oder irgendeine andere Krankheit äußern. Wir können stattdessen auch dem Symptom bis zur Ursache folgen. Nach der Völlerei, der Sauferei, dem Frönen eines jeden Lasters, fragen Sie sich selbst aufrichtig: “Wie fühle ich mich jetzt?” Hat es ein echtes Bedürfnis gestillt, wie eine nahrhafte Mahlzeit, die ein Gefühl von Sattheit und Wohlbefinden hinterlässt? Oder gibt es da noch immer einen Hunger? Einen Katzenjammer? Eine Wunde, die noch immer unter der Betäubung pocht? Schenken Sie diesem Gefühl Aufmerksamkeit – nicht als einen Schlich, um Sie zum Aufhören zu zwingen, sondern als eine aufrichtige Untersuchung, die darauf abzielt, die Lust in Ihrem Leben zu vermehren. Die Macht der Aufmerksamkeit integriert die ganze Erfahrung, sodass die inneren Assoziationen zu dem Verhalten auch die unangenehmen Nachwirkungen mit einschließen. Es wird nicht länger anderen Genüssen überlegen scheinen, und das heftige Verlangen danach wird abnehmen. Die Macht der Aufmerksamkeit ist viel größer als die Macht der Selbstbeherrschung.

Sie werden vielleicht meine etwas flapsige Nicht-Rechtfertigung für meine Flugreisen weiter oben in Frage gestellt haben. Ich blende nicht aus, wie wichtig Informationen über die Auswirkungen der Verbrennung von Flugzeugtreibstoff sind oder allgemeiner, die Auswirkungen von Konsum als solchem. Es ist beispielsweise wichtig zu wissen, dass jedes elektronische Gerät, das wir kaufen, sogenannte seltene Erden enthält, die meistenteils zu grauenvollen ökologischen und menschlichen Kosten in Ländern wie dem Kongo, Brasilien und Ecuador abgebaut werden. Wir müssen den Schmerz darüber integrieren. Wenn wir das tun, beginnen wir, andere Entscheidungen zu treffen – die Ergebnisse des “Tue, was du tun willst” ändern sich auf natürliche Weise.

Wenn wir unseren Aufmerksamkeitsbereich erweitern, erweitern wir uns selbst. Wir sind, was wir essen, und jedes Objekt der Aufmerksamkeit wird zu einer Art Nahrung. Auf eine Weltsicht des Zwangs konditioniert wie wir sind, ist es ganz neu für uns zu vertrauen, dass neue Information allein genügt, um jemanden zu ändern. Wir wollen es mit einer Art emotionalem Druck unterstützen, einer Anklage, einem schlechten Gewissen. Dies ist, und diese Behauptung zieht sich durch das gesamte Buch, kontraproduktiv. Sie provozieren Widerstand gegen die Information. Ich verwende lieber Humor und Liebe als eine Art trojanisches Pferd, um die Information zu übermitteln. Und ist sie erst einmal drinnen, wird sie ihre Wirkung entfalten.

Und jetzt ziehen Sie bitte die Möglichkeit in Erwägung, dass alles in diesem Kapitel falsch ist, und dass ich bloß willensschwach bin und meine Disziplinlosigkeit durch eine ausgetüftelte psychologische Rationalisierung rechtfertige. Es gibt ganz sicher eine Menge ehrwürdiger spiritueller Lehren, die uns vorschreiben, Selbstdisziplin, Beherrschung und Mäßigung zu kultivieren. Wer bin ich, geboren in den Schoß der Priviligiertheit, dass ich die altehrwürdige Tradition des Asketismus in Frage stelle? Auf der anderen Seite gibt es die ebenso ehrwürdige Tradition des Tantra, welche Ausdruck sowohl im Buddhismus, Hinduismus als auch im Taoismus findet, die mehr oder weniger mit allem übereinstimmt, was ich sage. Welche ist wahr? Ich denke nicht, dass ich irgendeine Logik anbieten oder mich auf eine Autorität beziehen kann, um die Sache beizulegen. Vielleicht sind die beiden, Tantra und Asketismus, eins. Ich weiß nur, dass mich in meinem eigenen Leben das Vertrauen in die Lust oft dorthin geführt hat, was von außen betrachtet dem Asketismus stark ähnelt. Ich habe am eigenen Leibe die Wahrheit des Verses 36 aus dem Daodejing erfahren:

“Um etwas zu schmälern, muss man es zuerst bewusst ausdehnen;

um etwas zu schwächen, muss man es zuerst bewusst stärken;

um etwas aus der Welt zu schaffen, muss man es zuerst blühen lassen.”

Sehr oft können wir erst, nachdem wir erreicht haben, was wir zu wollen glaubten, erkennen, dass wir das gar nicht wollten. Wenn wir diesen Kreislauf einmal durchgemacht haben, können wir ihn für andere beschleunigen. Unsere Geschichten verkürzen die Zeit, die andere damit verbringen, sich in dem, was sie nicht wollen, zu verlieren. Manchmal genügen unsere Erkundungen dieses Territoriums, damit andere überhaupt erst gar nicht dort hingehen. Auf der kollektiven Reise der Menschen muss jeder Winkel des Territoriums der Separation erforscht werden, bevor wir abschließend satt und erfüllt die Rückreise antreten können.

Und so kam es, dass ich, nachdem ich mir die Erlaubnis gab, so viel Alkohol zu trinken, wie ich wollte, so gut wie nie welchen trank. Indem ich mir die volle Erlaubnis gab, so viel Zucker zu essen, wie ich wollte, aß ich viel weniger, als wenn ich versuchte, mich selbst zu beschränken. Und meine unbeschränkte Erlaubnis einzukaufen führt mich meistenteils auf den Flohmarkt. Und das kommt nicht davon, dass ich mich selbst diszipliniert hätte, um diese Verhaltensweisen aufzugeben. Es kommt, weil ich die Tatsache auf mehreren Ebenen integriert habe, dass sich das alles überhaupt nicht gut anfühlt. Und dann braucht es nicht mehr Willenskraft diese Verhaltensweisen aufzugeben, als sich zurückzuhalten, sich den Daumen ins Auge zu piken. Hätte mein Auge keine Schmerzrezeptoren, dann könnte ich womöglich Schwierigkeiten haben mich zurückzuhalten, so wie es schwierig ist, mit einer Angewohnheit zu brechen, wenn wir nicht ihre gesamte Erfahrung – davor, währenddessen und danach – integrieren.

Unsere Gesellschaft verkündet den Glaubenssatz, dass Schmerz als Folge jedweder Handlung irgendwie vermieden werden kann. Fühlst du dich schlecht? Beschäftige dich sich mit etwas anderem, um dich abzulenken. Rauche eine. Du fühlst dich noch schlechter? Dann lege einen Film ein. Fühlst du dich immer noch schlecht? Trinke etwas. Hast du einen Kater? Nimm eine Tablette. Die Angewohnheit endlos die Folgen zu bewältigen hat ihre Entsprechung in der Mentalität der technologischen Problemlösungi, mit der versucht wird, die Folgen des Schadens zu vermeiden, der durch die vorangegangene Lösung entstanden ist. Aber weil die zugrundeliegende Wunde immer noch da ist, wird der Schmerz am Ende, wenn alle Lösungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, auch noch da sein. Daher das Sprichwort des Chan-Buddhismus: Der gewöhnliche Mensch vermeidet Folgen; der Bodhisattva vermeidet Ursachen. Warum? Der Bodhisattva würde wahrscheinlich auch versuchen, die Folgen zu vermeiden, wüsste er nicht, dass dies unmöglich ist. Der Schmerz wartet am Ende, wenn alle Lösungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Hier steht unsere Gesellschaft heute.

Aus des Bodhisattvas Sicht können wir bestimmte regelbasierte religiöse Lehren neu interpretieren. Vielleicht sind die Zehn Gebote gemeint als die Zehn Kennzeichen: Du weißt, du bist Gott nahe, wenn du feststellst, dass du nicht tötest, nicht stiehlst, deine Eltern ehrst, und so weiter.

Die Ausrichtung auf Lust, Verlangen, Lebendigkeit und Freude bietet auch eine Orientierungshilfe für die Arbeit auf der sozialen und politischen Ebene. Erinnern wir uns inmitten all der verhängnisvollen Aufrufe, unser Verhalten zu ändern, daran, dass wir danach streben, eine schönere Welt zu erschaffen, und nicht unter immer größeren Opfern die gegenwärtige aufrechtzuerhalten. Wir wollen nicht nur überleben. Wir stehen nicht kurz vor dem Verderben; wir stehen vor einer wunderbaren Möglichkeit. Wir bieten Menschen nicht eine Welt des Weniger, nicht eine Welt des Opfers, nicht eine Welt, in der sie nur weniger genießen und mehr leiden müssen – nein, wir bieten eine Welt mit mehr Schönheit, mehr Freude, mehr Verbundenheit, mehr Liebe, mehr Erfüllung, mehr Lebendigkeit, mehr Muße, mehr Musik, mehr Tanz und mehr Festen. Die inspirierendsten flüchtigen Einblicke, die Sie je in das hatten, was das menschliche Leben sein kann – das ist es, was wir anbieten.

Wenn Sie diese Vision fest im Sinn behalten können, dann werden Sie sie in Ihrem Aktivismus unterschwellig übermitteln. Die Menschen reagieren darauf besser als auf die geheime Botschaft “Du wirst vieles opfern müssen und ein ärmeres Leben führen. Du bist zu egoistisch. Dein Leben ist zu gut.” Sie werden reagieren, als würden Sie sie angreifen, und in gewissem Sinne werden sie damit Recht haben. Um effektive Diener einer schöneren Welt zu sein, müssen wir wissen, dass die Dinge, die wir opfern werden, nicht einmal annähernd so gut sind, wie die Dinge, die wir entdecken werden. Wir müssen erkennen, dass Häuser mit 500 Quadratmetern Wohnfläche persönlichem Glück weniger dienlich sind, als ein schön gestalteter öffentlicher Raum, durch den wir uns gern bewegen. Wir müssen glauben, dass der Komfort-Lebensstil uns weniger glücklich macht als zu gärtnern und unser eigenes Essen zu kochen. Wir müssen glauben, dass ein schnelleres Leben nicht gleichbedeutend mit einem besseren Leben ist. Wir müssen glauben, dass der Flitter unserer Zivilisation ein miserabler Ersatz für das ist, was ein Mensch wirklich braucht. Wenn dieser Glaube unaufrichtig ist und wir die echte Möglichkeit der Welt, die wir zu erschaffen suchen, nicht sehen können, werden unsere Worte wenig Macht besitzen, und unsere Handlungen werden nur schwach motiviert sein. Darum ist es auch so wichtig authentisch zu sein und selbst zu tun, was wir predigen. Es geht nicht darum, Scheinheiligkeit zu vermeiden (das wäre Teil der Kampagne, gut sein zu wollen). Es geht darum, vollständig in der neuen Geschichte zu leben und sie zu verkörpern, damit wir ihr freudvoll und effektiv dienen können.

i Im englischen Original: „technological fix“; siehe dazu auch Kapitel „Kontrollsucht“ in Die Renaissance der Menschheit, Anm. d.Ü.



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