Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich
Kapitel
Kapitel 32: Wunder
War haben alles Mögliche versucht und sind gescheitert. Jetzt wollen wir das Unmögliche versuchen. (Sun Ra)
Die Arbeit auf der Ebene von Geschichten hat zwei Dimensionen: erstensdie Unterbrechung der altenGeschichte: “Was du für wirklich gehalten hast, ist nur eine Illusion”; und zweitens das Angebot einer neuen: “Es ist so viel mehr möglich und wirklich als du dachtest.” Die erste erleben wir als Krise und Zusammenbruch. Die zweite erfahren wir als wunderbar. Das kennzeichnet ein Wunder: es ist nicht ein die Gesetze der Physik verletzendes Eingreifen einer externen Gottheit in weltliche Angelegenheiten; ein Wunder ist vielmehr etwas, das aus der Sicht der alten Geschichte von der Welt unmöglich aber in einer neuen möglich ist.
Weil ein Wunder (per Definition) von unserem heutigen Standpunkt aus unmöglich ist, können wir das Universum nicht zwingen, eines zu produzieren. Es liegt jenseits unseres Verständnisses von Ursache und Wirkung. Wir können hingegen einem anderen Menschen ermöglichen ein Wunder zu erfahren. So weit wir in einer neuen Geschichte stehen, haben wir alle die Macht Wunder zu bewirken. Wie Chris haben wir alle die Macht Handlungen zu setzen, die der alten Geschichte von der Welt zuwiderlaufen.
Ein Wunder ist die Einladung in eine größere Wirklichkeit. Vielleicht bin ich dickköpfiger als die meisten, aber es braucht für mich normalerweise wiederholt Wunder, damit ich die Einladung annehme, die von ihnen ausgeht. Die Sichtweisen der Separation – zum Beispiel lineare Kausalität und rationales Eigeninteresse – sitzen tief in meinen Knochen, weil ich ein Produkt dieses Zeitalters bin.
Mit 21 Jahren kam ich in Taiwan an, unzufrieden mit meiner eigenen Kultur, in der ich mich wie ein Fremder fühlte, aber ich war immer noch von vielen für sie charakteristischen Aspekten geprägt. Schon wahr, dank meiner eher linksorientierten politischen Sozialisation wusste ich, dass der Mythos von Fortschritt und ökonomischer Globalisierung zum Scheitern verurteilt war, aber ich akzeptierte unhinterfragt die wissenschaftliche Methodik als den Königsweg zur Wahrheit und glaubte, dass die Wissenschaft als Institution zu einem ziemlich vollständigen allgemeinen Verständnis über das Funktionieren des Universums gelangt war. Ich war schließlich ein Yale-Absolvent, ausgebildet in Mathematik und analytischer Philosophie. Es dauerte aber nicht lange, bis meine Geschichte von der Welt unter Beschuss geriet. Ich hatte Erfahrungen mit der Traditionellen Chinesischen Medizin und Qigong gemacht, die trotz meiner größten Anstrengungen, für sie plausible Erklärungen zu finden, unergründbar blieben. Ich machte einen heftigen LSD Trip, durch den das, was ich “Wirklichkeit” genannt hatte, in ein Meer von Geist zusammenschmolz. Wie ein Schwamm sog ich das buddhistische und taoistische Gedankengut auf, von dem die Insel durchdrungen war und hörte von vertrauenswürdigen Menschen zahllose Geschichten über Geister, taoistische Schamanen und andere seltsame Dinge, die ich nur mit einer tüchtigen Interpretationsanstrengung von mir weisen konnte. (Vielleicht versuchen sie einen Ausländer zu beeindrucken. Vielleicht sind sie unwissend und abergläubisch und neigen dazu, Dinge zu sehen, die nicht da sind.) Ich fühlte mich zunehmend unwohl mit der kulturellen und persönlichen Arroganz, die ich annehmen musste, um meine Weltsicht aufrechtzuerhalten. Die Weltwahrnehmungen einer ganzen Kultur zugunsten des Dogmas von Objektivität und Reduktionismus zu verwerfen, schien mir genau jenem wirtschaftlichen und kulturellen Imperialismus zu entsprechen, dessen ich mir schon bewusst war. Das hier war eine Art Imperialismus der Deutungshoheit: Eine ganze Kultur vom anthropologischen Standpunkt aus zu betrachten oder sie entlang eines Narrativsvon kognitiver Entwicklung zu interpretieren war in beiden Fällen überfrachtet mit den Machtbeziehungen, die unsere Welt beherrschen.
Zur gleichen Zeit entdeckte ich Bücher, die nahelegten, dass die westliche Weltsicht von innen her zerfällt. Besonderen Einfluss hatten die Arbeiten des Nobelpreisträgers Ilya Prigogine und des Physikers David Bohm, zwei der wichtigsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die mein Verständnis von Kausalität und meine Annahme, das Universum sei bar einer inhärenten Ordnung oder Intelligenz, von der ich nie gedacht hätte, dass sie mit wissenschaftlichen Begründungen in Zweifel gezogen werden könnte, auf den Kopf stellten. Das befreite mich aus der Dualismusfalle die Phänomene, von denen ich in Taiwan erfahren hatte, als das Wirken einer getrennten, nicht-materiellen geistigen Sphäre zu betrachten und daraus zu schließen, dass die Wissenschaft ihre Domäne habe und die Spiritualität eine andere. Aber nun konnte ich sehen, dass das Materielle viel mehr war als das, was wir daraus gemacht hatten; dass es potentiell all die Phänomene miteinschließen konnte, die wir der geistigen Sphäre zuschrieben, und dass das nicht durch Reduktionismus, Auslassung oder durch Versuche das “Spirituelle” zu erklären geschehen konnte, sondern im Gegenteil nur, indem man den Begriff des Materiellen sehr, sehr weit über das hinaus ausdehnte, womit sich jeder Wissenschaftler zufrieden gab.
Wir fürchten uns vor allem, was unsere Geschichte von der Welt unterbricht, all dem, was die Regeln und Grenzen des Realen in Frage stellt. Wir fürchten uns vor Wundern, aber gleichzeitig sehnen wir uns danach. Sie sind unsere größte Sehnsucht und unsere größte Angst. Wenn die Geschichte, in der wir leben, jung ist, ist die Angst größer als die Sehnsucht. Eine junge Geschichte hat ein starkes Immunsystem. Es kann sich der widersprüchlichen Datenpunkte mühelos entledigen. Ich sehe einen Dangji (einen taiwanesischen Schamanen) in Zittertrance, der eine glühend heiße Kohlenschale in seinen bloßen Händen trägt – gut, sie muss nicht wirklich so heiß sein, wie sie aussieht. Ein Taxifahrer erzählt mir, dass er einmal eine seltsame Frau in einem Hochzeitskleid mitnahm und zu einer Adresse führte, die nicht existierte, und als er sich umdrehte um sie zu fragen, war sie aus dem Taxi verschwunden – gut, er war wahrscheinlich an diesem Abend betrunken, oder vielleicht versuchte er, einen gutgläubigen Ausländer zu beeindrucken. Ich verstauche mir den Knöchel so stark, dass ich nicht gehen kann, und werde in eine Ein-Raum Betonklinik gebracht, wo der Arzt, Zigarette im Mundwinkel, für fünf qualvolle Minuten seinen Daumen in das geschwollene, entzündete Fleisch bohrt, eine Paste drauf tut, den Fuß einwickelt und mich heimschickt, und der Knöchel ist am nächsten Tag vollkommen geheilt – gut, er muss ja nicht wirklich so schlimm verstaucht gewesen sein, er kann gar nicht auf seine doppelte Größe angeschwollen sein, wie ich dachte, und jedenfalls wäre er auch von sich aus wieder besser geworden. Ich besuche einen Qigong Meister, der mir auf ein paar Stellen am Körper klopft um “meine Meridiane zu säubern”, und ich beginne innerhalb von Sekunden in Bächen zu schwitzen. Eine halbe Stunde später gehe ich hinaus und fühle mich pudelwohl – gut, mir war vermutlich schon warm, als ich hineinging, und es fiel mir nicht auf, dass der Raum besonders heiß war, und was das intensive Kribbeln betrifft, das ich fühlte, als er uns zeigte, was Chi Projektion ist – das muss ich mir eingebildet haben.
Die vielen hundert Menschen, die bei diesem Mann lernen – es müssen Leichtgläubige sein, die sich von seinen glatten Reden einreden lassen zu glauben was unmöglich ist; wahrscheinlich sind sie psychisch abhängig von den spirituellen Schein-Lehren, die er verhökert. Ich muss nicht einmal wissen, was er genau sagt oder untersuchen, ob es ein Schwindel ist oder nicht – sie müssen es sein, weil andernfalls meine Welt in Stücke zerfiele. Das gleiche gilt auch für all die Behauptungen und lebenslangen Karrieren hunderttausender von Homöopathen, Neuropathen, Akupunkteuren, Chiropraktikern, Energieheilern und allen anderen, die auf eine Art und Weise praktizieren, für die es keine “wissenschaftlichen Beweise” gibt – kontrollierte Doppelblindstudien in von Experten geprüften Fachzeitschriften. Wäre an ihren Ideen irgendetwas wahr, dann würden die unvoreingenommenen Institutionen der Wissenschaft sie mittlerweile sicher anerkennen. Diese Praktiker machen sich selbst etwas vor und erinnern sich selektiv nur an die Fälle, in denen es den Patienten besser ging – und manchen von ihnen wäre es sowieso besser gegangen, selbst wenn sie nicht behandelt worden wären. Das sind alles fehlgeleitete, sich selbst täuschende schlechte Beobachter der Realität – im Gegensatz zu mir und den Leuten, denen ich Recht gebe. Wir sind diejenigen, die unsere Ansichten auf Beweise und Logik gründen.
Sie können sehen, wie robust eine Geschichte von der Welt sein kann und wie umfassend. Letztlich bestimmen unsere Ansichten darüber, was wissenschaftlich akzeptabel ist und was nicht, unser Vertrauen in die bestehenden Sozialstrukturen und Autoritäten. Die Anschuldigungen von Naivität, geistiger Umnachtung, der Vorwurf keinen Bezug zur Realität zu haben, und die emotionale Energie hinter diesen Anschuldigungen entspringen einem Gefühl der Bedrohung. Die Bedrohung ist real. Was bedroht wird, ist der Stoff, aus dem die Welt, wie wir sie kannten, gemacht ist. Letztlich steckt die gleiche Angst hinter den mentalen Verrenkungen der Umweltschutz-Skeptiker oder Zentralbänker oder anderer, die die zunehmend offensichtlichen Zeichen ignorieren, dass unser System dem Untergang geweiht ist, und dass die Ansichten, die wir als gegeben hinnahmen, die Institutionen, die so dauerhaft wirkten, die Phrasen, die so verlässlich schienen und die Lebensgewohnheiten, die wir für so praktisch hielten uns nicht länger dienen.
Wie hilft man Menschen und den Systemen, in denen sie eingebettet sind, von der alten Geschichte abzulassen? Ein direkter Angriff – Beweis mit Gegenbeweisen und Logik mit Gegenlogik zu parieren – verstärkt nur die Angst und den Widerstand. Nicht, dass ich denke, es wäre keine Logik hinter meinen Ansichten, oder dass sie nur im Widerspruch zu den Beweisen aufrechterhalten werden könnten, ganz im Gegenteil. Aber wie ich beschrieben habe, muss etwas Anderes geschehen, etwas Tieferes muss sich verschieben, bevor jemand dafür bereit wird, die Beweise auch nur anzuschauen. Als Heilerinnen und Agenten des Wandels müssen wir dieses tiefere Etwas ansprechen: die Verletzung im Herzen der Geschichte von der Separation. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie wir eine Einladung in eine größere Welt aussprechen. Das ist die Essenz unserer Arbeit als Wunderwirkende.
Geschichten haben wie alle Wesen eine Lebensdauer. In ihrer Jugend ist ihr Immunsystem stark, aber mit der Zeit verlieren sie zunehmend die Kraft, widersprüchlichen Beweisen und Erfahrungen, die sich anhäufen, zu widerstehen. Am Ende konnte ich meine eigene Geschichte selbst nicht mehr glauben. Es wurde mir unerträglich so zu sein wie ich sein musste, um sie weiter aufrechtzuerhalten – zynisch, respektlos, herablassend, neue Erfahrungen vermeidend. Als die alte Welt unerträglich wurde, kamen die Einladungen in die neue immer häufiger und überzeugender.
Wenn eine Geschichte altert, entstehen an ihren Grenzen Risse – in der Schale des kosmischen Eies. Wunder ist die Bezeichnung, den wir dem Licht geben, das aus einer größeren, strahlenderen Welt ins Innere durchscheint. Es zeugt nicht nur davon, dass die Realität umfassender ist als wir dachten, sondern dass diese größere Wirklichkeit bald kommt. Es ist beides, ein flüchtiger Eindruck und ein Versprechen.
Je mehr wir selbst im Bewusstsein des Interbeing leben, desto eher sind auch wir in der Lage Wunderwirkende zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass uns selbst unser Tun als wundersam erscheint – es passt in unser erweitertes Verständnis von der Natur des Lebens und der Kausalität. Zum Beispiel:
- Nimmt man bewusst eine dienende Haltung ein, so sind Taten, die für andere außerordentlich mutig erscheinen, eine Selbstverständlichkeit.
- Erfährt man die Welt als reich, dann wird Großzügigkeit ganz natürlich, weil es keinen Zweifel daran gibt, dass kontinuierlich etwas nachkommt.
- Betrachtet man andere Menschen als die Spiegelbilder seiner selbst, wird Versöhnlichkeit zur zweiten Natur, weil man feststellt: “Um Gottes willen, so ticke ich”.
- Wenn man die Ordnung, Schönheit, das Mysterium und die Verbundenheit des Universums wertschätzt, entsteht eine tiefe Freude und Heiterkeit, die durch nichts erschüttert werden kann.
- Sieht man Zeit als etwas reichlich Vorhandenes und das Leben als etwas Unendliches, entwickelt man eine übermenschliche Geduld.
- Lässt man sich nicht von Reduktionismus, Objektivität und Determinismus einschränken, werden Technologien möglich, die die Wissenschaft der Separation nicht billigen kann.
- Gibt man die Geschichte vom atomisierten und abgeschnittenen Selbst auf, erwachen erstaunliche intuitive Fähigkeiten und Wahrnehmungen aus ihrer lebenslangen Latenzzeit.
Diese und viele andere Wunder sind Grenzsteine zum Territorium des Interbeing.