Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich
Kapitel
Kapitel 20: Nicht-Tun
Die Probleme, die wir in unserem Leben und auf der Welt haben (seien es Beziehungskrisen oder Welthunger) rühren von unserer energetischen Schwäche und mangelnden Verbundenheit, von unserer Unfähigkeit uns selbst, einander und die Erde zu fühlen und wahrzunehmen, wie das Leben danach trachtet, sich durch uns zu bewegen und weiterzuentwickeln. Die Frage ist nicht, ob man handeln und “etwas tun” soll oder nicht, sondern was uns eigentlich zum Tun veranlasst. (Dan Emmons)
Bevor sie sich auf eine neue Geschichte einlassen können, müssen die meisten Menschen (und wahrscheinlich ebenso die meisten Gesellschaften) erst ihren Weg aus der alten heraus finden. Zwischen der alten und der neuen ist ein leerer Raum. Es ist eine Zeit, in der die Lektionen und Erfahrungen der alten Geschichte verarbeitet werden. Nur wenn diese Arbeit getan wurde, ist die alte Geschichte wirklich abgeschlossen. Dann ist da nichts, die schwangere Leere, aus der alles Seiende entsteht. Wir kehren zum Wesentlichen zurück und gewinnen die Fähigkeit wieder, aus dem Wesentlichen heraus zu handeln. Wenn wir wieder zurück in den leeren Raum zwischen den Geschichten kommen, haben wir die Wahl aus Freiheit und nicht aus Gewohnheit zu handeln.
Eine guter Zeitpunkt nichts zu tun ist jedesmal dann, wenn Sie das Gefühl haben festzusitzen. Ich habe eine Menge Nichts getan, als ich an diesem Buch schrieb. Mehrere Tage lang versuchte ich den Schluss zu schreiben, drehte am Rad, und produzierte kitschige Wiederaufgüsse von früherem Material. Je mehr ich tat, desto schlimmer wurde es. Also gab ich schließlich die Mühen auf und setzte mich einfach auf die Couch, ein Baby um die Brust geschnallt, und wanderte in Gedanken durch das Buch, das ich geschrieben hatte, aber ohne den leisesten Vorsatz mir auszudenken, was weiter zu schreiben sei. Aus diesem leeren Raum entstand dann der Schluss, unaufgefordert.
Haben Sie keine Angst vor dem leeren Raum. Er ist die Quelle, zu der wir zurückkehren müssen, wenn wir von den Geschichten und Gewohnheiten, die uns gefangen halten, frei werden wollen.
Wenn wir feststecken und nicht freiwillig den leeren Raum aufsuchen, werden wir am Ende trotzdem dort landen. Vielleicht sind Sie auf einer persönlichen Ebene mit diesem Prozess vertraut. Die alte Welt fällt auseinander, aber die neue ist noch nicht aufgetaucht. Alles, was einst dauerhaft und real schien, entpuppt sich als eine Art Halluzination. Sie wissen nicht, was Sie denken, was Sie tun sollen; Sie wissen nicht mehr, was das alles bedeutet. Der Lebensverlauf, den Sie geplant hatten, erscheint absurd, und Sie können sich keinen anderen vorstellen. Alles ist unsicher. Ihr Planunghorizont schrumpft von Jahren auf diesen Monat, auf diese Woche, auf heute und vielleicht sogar auf diesen gegenwärtigen Augenblick. Ohne den vermeintlichen Schutz und Realitätsfilter, den die Trugbilder von Geordnetheit vortäuschten, fühlen Sie sich nackt und verwundbar, aber Sie spüren auch eine Art von Freiheit. Möglichkeiten, die in der alten Geschichte nicht existierten, liegen vor Ihnen, selbst wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie Sie dorthin kommen. Die Herausforderung in unserer Kultur ist es, sich zu erlauben in diesem Raum zu verweilen, darauf zu vertrauen, dass die nächste Geschichte entstehen wird, sobald die Zeit dazwischen beendet ist, und dass man sie schon erkennen wird. Unsere Kultur möchte, dass wir weitermachen, etwas tun. Die alte Geschichte, die wir hinter uns lassen, die meist Teil der allgemeinen Geschichte von den Menschen ist, entlässt uns nur sehr widerwillig. Also bitte, wenn Sie in diesem heiligen Raum zwischen den Geschichten sind, erlauben Sie sich, dort zu sein. Es macht Angst, die alten Strukturen von Sicherheit zu verlieren, aber Sie werden entdecken, dass Sie trotzdem damit leben können, selbst wenn Sie Dinge verlieren, die zu verlieren für Sie undenkbar war. Eine Gnade beschützt uns im Raum zwischen den Geschichten. Nicht, dass Sie nicht ihre Ehe, ihr Geld, ihren Job oder ihre Gesundheit verlieren werden. Sehr wahrscheinlich sogar werden Sie eines davon verlieren. Nur werden Sie erkennen, dass Sie, selbst wenn Sie es verloren haben, immer noch damit leben können. Sie werden entdecken, dass Sie dafür mit etwas anderem in engerer Verbindung sind, das viel wertvoller ist, etwas, das kein Feuer verbrennen und kein Dieb stehlen kann, etwas, das keiner nehmen und das man nicht verlieren kann. Manchmal verlieren wir es vielleicht aus den Augen, aber es ist immer da und wartet auf uns. Das ist der Ort, an dem wir ausruhen können, wenn die alte Geschichte auseinanderfällt. Ohne ihren Nebel können wir eine wahre Vision von der nächsten Welt, der nächsten Geschichte, der nächsten Lebensphase empfangen. Aus der Vereinigung dieser Vision und dieser Leere entsteht eine große Kraft.
Ich schrieb: “Möglichkeiten, die in der alten Geschichte nicht existierten, liegen vor Ihnen, selbst wenn Sie keine Vorstellung davon haben, wie Sie dorthin kommen.” Das ist eine ziemlich gute Beschreibung von einem Punkt, dem wir uns kollektiv annähern. Diejenigen unter uns, die auf verschiedenen Wegen die alte Geschichte von den Menschen schon verlassen haben, sind die Sinnesorgane des kollektiven menschlichen Körpers. Wenn die Zivilisation als Ganzes in den Raum zwischen den Geschichten eintritt, wird sie bereit sein diese Visionen, diese Techniken und sozialen Formen des Interbeing anzunehmen.
Die Zivilisation ist noch nicht ganz dort. Im Moment glauben die meisten Menschen immer noch stillschweigend, dass die alten Lösungen funktionieren werden. Ein neuer Präsident wird gewählt, eine neue Erfindung angekündigt, ein Aufwärtstrend in der Wirtschaft verkündet, und die Hoffnung springt noch einmal an. Vielleicht wird jetzt alles wieder zur Normalität zurückkehren. Vielleicht wird der Aufstieg der Menschheit wieder Fahrt aufnehmen. Heute ist es immer noch ohne allzugroße Realitätsverweigerung oder Selbsttäuschung möglich sich vorzustellen, dass wir nur gerade schwierige Zeiten durchleben. Wir kommen da schon durch, wenn wir nur ein paar neue Ölquellen entdecken, mehr Infrastruktur bauen, um die Wirtschaft anzukurbeln, das molekulare Rätsel der Autoimmunerkrankungen lösen, mehr Drohnen aussenden, die uns vor Terrorismus und Verbrechen schützen, Nutzpflanzen gentechnisch verändern, um höhere Erträge zu erzielen, und weißen Farbstoff in den Zement mischen, damit er die Sonnenstrahlen reflektiert und die globale Erwärmung bremst.
Angenommen, dass all diese Bemühungen wahrscheinlich unbeabsichtigte Folgewirkungen zeitigen, die schlimmer sind als die Probleme, die sie ursprünglich lösen sollten, erkennt man unschwer die Weisheit des Nichtstuns. Wie ich später noch ausführen werde, impliziert das aber nicht, dass sich die Aktivisten auf Boykotts und Blockierungen konzentrieren sollen. Nichts zu tun ist eine natürliche Reaktion auf den Zusammenbruch der Geschichte, die die Motivationen für das alten Tun lieferte, und daher sind wir aufgefordert, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Niedergang dieser Geschichte zu beschleunigen.
Mein Bruder, dessen geistige Klarheit relativ makellos ist, weil er kaum etwas liest, das nach 1900 geschrieben wurde, erzählte mir von seiner Vision davon, wie sich der Umbruch letztendlich manifestieren wird. Einige Bürokraten und Führungskräfte werden beisammensitzen und sich fragen, was angesichts der neuen Finanzkrise zu tun sei. Alle üblichen Strategien von Banken – Notverkäufe, Zinssenkungen, quantitative Lockerung und so weiter – werden auf dem Tisch liegen, aber die Führungskräfte werden einfach nicht im Stande sein, sich für eine davon zu entscheiden. “Scheiß drauf!” werden sie sagen, “Gehn wir doch einfach angeln.”
An einem Punkt werden wir einfach aufhören müssen. Einfach aufhören, ohne irgendein Konzept, was weiter zu tun ist. Wie ich anhand der Beispiele Abrüstung und Permakultur beschrieb, haben wir uns in einer höllischen Landschaft verloren mit einer Karte, die uns im Kreis führt, ohne Ausweg. Um zu entkommen werden wir die Karte wegwerfen und uns umsehen müssen.
Haben Sie sich vielleicht auch einen akuten Fall von Scheiß-draufitis zugezogen, als Ihre alte Geschichte an ein Ende kam, oder wenn sie gerade dabei ist zu enden? Die Prokrastination, die Trägheit, die halbherzigen Versuche, das sich-dem-Trott Hingeben, all das zeigt an, dass die alte Geschichte Sie nicht mehr motiviert. Was einst sinnvoll schien, ist jetzt nicht mehr sinnvoll. Sie beginnen, sich von dieser Welt zurückzuziehen. Die Gesellschaft tut ihr Bestes, um Sie davon zu überzeugen, dem Rückzug zu widerstehen, der, wenn man sich ihm widersetzt, Depression genannt wird. Immer wirkungsvollere motivationale und chemische Mittel sind erforderlich, um uns auf das konzentriert zu halten, worauf wir uns nicht konzentrieren wollen, und motiviert zu halten, das zu tun, was uns egal ist. Wenn die Angst vor Armut nicht wirkt, dann vielleicht medikamentöse psychiatrische Behandlung; alles, um Sie dazu zu bringen weiter an der gewohnten Tagesordnung festzuhalten.
Die Depression, die es verunmöglicht, an dem Leben, das zur Disposition steht, dynamisch teilzunehmen, hat auch eine kollektive Ausprägung. Ohne eine überzeugende Vorstellung von Sinn oder Bestimmung wurstelt unsere Gesellschaft vor sich hin und macht Bewegungen nur halbherzig mit. “Depression” manifestiert sich im ökonomischen Sinn, indem das Instrument unseres kollektiven Willens, das Geld, stagniert. Es ist nicht mehr genug davon da, um irgendetwas Großartiges damit zu tun. Wie Insulin in einen Insulin-resistenten Diabetiker pumpen die Währungsbehörden immer mehr Geld in die Wirtschaft mit immer weniger Wirkung. Was einst einen wirtschaftlichen Boom ausgelöst hätte, reicht nun kaum noch aus, um die Wirtschaft davon abzuhalten endgültig zum Stillstand zu kommen. Die wirtschaftliche Paralyse könnte tatsächlich die Form sein, in der dieses “Halt!” passiert. Aber es könnte auch alles andere sein, das uns dazu bringt, unsere Geschichte und ihre Inszenierung ein für alle Mal aufzugeben.
Nichts zu tun ist kein universeller Vorschlag; er bezieht sich spezifisch auf die Zeit, in der eine Geschichte endet, und wir den Raum zwischen den Geschichten betreten. Ich stütze mich hier auf das taoistische Prinzip des Wu-Wei. Manchmal als “Nicht-Tun” übersetzt ist vielleicht eine bessere Übersetzung: “Nicht-Plan” oder “Nicht-Erzwingen”. Es bedeutet Freiheit vom reflexiven Tun: Tun, wenn es Zeit ist zu tun; nicht-Tun, wenn es nicht Zeit ist zu tun. Das Tun ist also mit der natürlichen Bewegung der Dinge im Einklang und im Dienste dessen, was geboren werden möchte.
Hier beziehe ich Inspiration aus einem wunderschönen Vers aus dem Daodejing. Dieser Vers ist extrem dicht, er hat mehrere Bedeutungen und Bedeutungsebenen, und ich habe keine Übersetzung gefunden, die das zum Ausdruck bringt, worauf ich mich hier beziehe. Also ist das Folgende meine eigene Übersetzung. Es ist die zweite Hälfte von Vers 16 – wenn Sie die vorhandenen Übersetzungen vergleichen, werden sie erstaunt sein, wie sehr sie sich unterscheiden.
Alle Dinge kehren an ihre Wurzel zurück.
An der Wurzel angekommen ist Stille.
In der Stille kehrt der wahre Sinn zurück.
Das ist, was echt ist.
Das Echte zu kennen stiftet Klarheit.
Das Echte nicht zu kennen und töricht zu handeln, bringt Unheil.
Aus dem Wissen um das Echte entsteht freier Raum,
aus dem freien Raum entsteht Unbefangenheit,
aus der Unbefangenheit entsteht Souveränität,
aus der Souveränität entsteht, was natürlich ist.
Was natürlich entsteht, ist das Tao.
Aus dem Tao kommt, was dauerhaft ist
und über sich selbst hinaus Bestand hat.