Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich
Kapitel
Kapitel 31: Unterbrechung
Es ist zwecklos zu versuchen einen Menschen mit Argumenten von einer Sache abzubringen, von der er nie durch Argumente überzeugt wurde. (Jonathan Swift)
Die Welt, wie wir sie kennen, basiert auf einer Geschichte. Um den Wandel herbeizuführen, muss man erstens die bestehende Geschichte von der Welt unterbrechen und zweitens eine neue Geschichte von der Welt erzählen, damit jene, die den Raum zwischen den Geschichten betreten, wissen, wohin sie gehen müssen. Oft verschmelzen diese beiden Funktionen in eine, weil unsere Handlungen, die Teil der Erzählung einer neuen Geschichte sind, zugleich auch die alte unterbrechen.
So sehe ich meine Arbeit, jene von Aktivisten, und sogar auf gewisser Ebene die Arbeit von Künstlerinnen und Heilern. Viele der Geschichten, die ich in diesem Buch erzählt habe, veranschaulichen die Unterbrechung der alten Geschichte: Panchos Umgang mit dem Polizisten zum Beispiel. Ich werde bald noch einige weitere Beispiele bringen, aber widmen wir uns zuerst einer Gruppe von Menschen, die für viele meiner Bekannten eine Quelle der größten Verzweiflung ist. Es sind die “Menschen, die es einfach nicht kapieren”.
Wenn ich öffentliche Vorträge halte, kommt meist eine Frage wie diese: “Um eine schönere Welt zu schaffen braucht es einen massiven Wandel von Werten und Ansichten, und ich sehe einfach nicht, dass er stattfindet. Die Menschen sitzen zu sehr fest, sind zu ignorant. Sie werden sich nie ändern, weder die, die an der Macht sind, noch mein konservativer Schwager. Was können wir tun, damit die Leute nicht mehr festsitzen?”
Was fast nie funktioniert, ist, die Ansichten der betreffenden Person mit Hilfe von Logik und Beweisen zu ändern. Das sollte nicht überraschen, da ja die Menschen auch nicht durch Beweise oder Vernunft zu ihren Ansichten gelangt sind. Wir verwenden umgekehrt die Vernunft, um die Beweise so zu arrangieren, dass sie in eine Geschichte passen, die im Einklang mit unserem zugrundeliegenden Seinszustand steht; dieser umfasst emotionale Neigungen, alte Verletzungen, Beziehungsmuster und Lebensperspektiven. Diese Geschichte ist mit anderen Geschichten verschränkt, und schließlich mit den tiefen unbewussten persönlichen Mythen, die unser Leben definieren. Diese persönlichen Mythen sind wiederum in unseren kulturellen Mythos eingewoben, in die Konsensrealität, die so tief reicht wie unsere Zivilisation selbst. Weil Ansichten typischerweise Teil einer größeren Geschichte sind, in die unsere Identität und das eigene Wertesystem eingebettet sind, wird eine Anfechtung der Ansichten oft als ein Angriff aufgefasst und löst verschiedene Verteidigungsmechanismen aus, um die größere Geschichte zu schützen. Man wird ignoriert, als Hippie abgeschrieben, als Linker, Umweltfreak, oder Träumer oder das Gegenüber pariert mit der nächstbesten Gegenbehauptung, die gerade bequem zur Hand ist. Vielleicht wird Ihr Gegenüber das Gespräch auf einen trivialen Punkt umlenken, eine falsche Darstellung, einen Grammatikfehler oder eine persönliche Beleidigung und damit alles disqualifizieren, was Sie sonst noch gesagt haben.
Solche Menschen sind nicht wie Sie. Anders als die entscheiden Sie sich für Ihre Ansichten auf Basis von Beweisen und Vernunft. Nicht wie die Republikaner! Die Liberalen! Die Tea Party! Die religiösen Fundamentalisten! Die leichtgläubigen New Age Leute! Das medizinische Establishment! Genau, Sie sind zu Ihren Meinungen durch die unvoreingenommene Abwägung der Beweise gelangt, während jene, die anderer Meinung als Sie sind, im Sumpf von Ignoranz, Vorurteilen und der guten alten Dummheit stecken.
Seien wir doch ehrlich zu uns selbst. Wer von uns kann auf sein Leben zurückblicken und bestreiten, dass auch wir uns die meiste der Wahrheit gegenüber verschlossen haben, während wir das Ungewisse glaubten und Anfechtungen auf die oben beschriebene Weise beiseite wischten? Was lässt Sie denken, Sie würden sich heute ihre Meinung auf irgendeine andere Art und Weise bilden und aufrechterhalten?
Die Vorstellung, dass wir unsere Ansichten auf Vernunft und Beweise gründen oder zumindest das Ideal es so zu tun, hat tiefe Wurzeln in der westlichen Philosophie und der Weltsicht, die daraus hervorgegangen ist. In ihr klingt die axiomatische Methode der Mathematik nach, die philosophische Herangehensweise, “Grundprinzipien” zu formulieren, von denen alles Weitere logisch abgeleitet wird, und die Objektivität der Wissenschaft, die davon ausgeht, dass wir die Wahrheit erkennen können, indem wir vorurteilsfrei Hypothesen über eine Wirklichkeit, die außerhalb unserer selbst liegt, testen. Sie spiegelt sich in der Vorstellung wider, dass man jede Argumentation mit einer klaren Begriffsdefinition beginnen muss. Gut, jeder Streit mit Ihrem republikanischen Schwager oder Ihrer impfkritischen Tante, oder Ihrem Cousin, der für Impfungen ist (suchen Sie sich das Beispiel heraus, das Sie zwickt) sollte bestätigen, dass dieser Ansatz einfach nicht funktioniert. Es wird schnell offensichtlich, dass es unmöglich ist, sich auch nur darüber einig zu werden, was die Fakten sind, ganz abgesehen davon, was die Fakten bedeuten.
Und es wird noch schlimmer. Eine Reihe von Studien an der Universität von Michigan aus den Jahren 2005 und 2006 zeigte nicht nur, dass die Menschen gewohnheitsmäßig Fakten verwerfen, die nicht zu ihren Ansichten passen, sondern dass sie sogar ihre Ansichten verhärten, wenn sie mit widersprüchlichen Tatsachen konfrontiert werden, vielleicht in dem Bestreben, kognitive Dissonanz zu vermeiden. Darüber hinaus hatten die am meisten falsch informierten Personen die unerschütterlichsten Meinungen, und die politisch komplexesten Denker waren am wenigsten offen für widersprüchliche Information.i
Die Fakten erreichen unser Gehirn schon vorgefiltert durch die verzerrende Linse der Geschichten, auf deren Basis wir denken und handeln. Die Debatte über den Klimawandel illustriert das anschaulich: Wenn man sich damit beschäftigt, stellt man fest, dass es unmöglich, sich über die wirklichen Tatsachen sicher zu sein. Gewiss gibt es viele Studien und Berichte, aber man findet auch Anschuldigungen, dass widersprüchliche Daten ausgelassen werden, man findet Vorwürfe von Befangenheit, Schlamperei oder richtiggehender Unehrlichkeit in diesen Berichten. Welche Beweise man letztendlich akzeptiert, hängt stark davon ab, ob man Autoritäten vertraut oder nicht, was wiederum von persönlichen Erfahrungen abhängt, vielleicht von der Beziehung zum eigenen Vater und so weiter. Nehmen wir zum Beispiel die Berufung auf die “annähernde Einstimmigkeit von Klimawissenschaftlern”. (Herrscht da wirklich nahezu Einstimmigkeit? Ob man diese Aussage wiederum glaubt oder nicht hängt vom Vertrauen in die Kompetenz der Quelle ab, die das sagt. Vertrauen Sie der New York Times in dieser Hinsicht? Oder vertrauen Sie einem unorthodoxen Wissenschaftler, der von seinen Kollegen geächtet wird?) Zudem beruht die Berufung auf die annähernde Einstimmigkeit der Wissenschaftler auf der Annahme, dass die Wissenschaft als Institution grundsätzlich richtig ist, welche ihrerseits wiederum auf größeren und weniger bewussten Geschichten beruht.
Ich will hier nicht den Klimawandel in Frage stellen; es geht mir nur darum zu verdeutlichen, wie die Beweise, statt eine Grundlage für Ansichten zu sein, durch die Ansichten gefiltert werden, um die Integrität einer Geschichte aufrechtzuerhalten. Gute Geschichtenerzähler verstehen das und verwenden es bewusst, indem sie Fakten, Studien und so weiter in ihre Geschichten einbauen. In der Debatte um den Klimawandel tun das beide Seiten. Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass eine intelligente, rationale Person (wie Sie) nie die globale Erwärmung bestritte, würde sie nur unvoreingenommen auf die Beweise schauen. Aber Sie werden es nicht glauben – Ihre Opponenten denken das Gleiche über ihre Position. Ist der Grund für unsere kollektive Dummheit nur, dass die Kontrolle über die Dinge nicht in den Händen der gescheiten Leute liegt? Oder könnte es sein, dass wir uns in den Fängen einer Geschichte befanden, die uns zwangslläufig gewisse Ansichten über die Welt einprägte?
Ich traf neulich eine wirklich gescheite Dame. Sie war Vizepräsidentin bei der Firma Nestlé. Ich schnappte auf, wie eine College-Studentin ihre glanzvolle Darstellung der sozialen und umweltbezogenen Grundsätze von Nestlé in Frage stellte. Die Studentin befragte die Vizepräsidentin mutig über deren Getränkekategorie Nummer eins, das in Flaschen abgefüllte Wasser. “Brauchen wir so etwas wirklich?” fragte sie, und: “Ich verstehe, dass Sie 40% weniger Plastik pro Flasche verbrauchen, aber wäre es nicht besser überhaupt kein Plastik zu verwenden?”
Auf jede Frage hatte die Vizepräsidentin eine vorgefertigte, systematische Antwort. Wasser in Flaschen treffe auf ein reales Bedürfnis in einer Gesellschaft, die immer unterwegs ist. Und wussten Sie, dass der Rohstoff für die Plastikflaschen ein Nebenprodukt bei der Erzeugung von Benzin aus Erdöl ist? Wenn er nicht für Flaschen verwendet wird, endet er als irgendein anderes Plastikprodukt oder landet direkt auf einer Müllhalde in der Natur. Glas zu produzieren koste viel mehr Energie. Und das Leitungswasser sei nicht mehr sauber.
Ich war beeindruckt, nicht nur von ihrer offensichtlichen Ernsthaftigkeit, sondern auch von ihrer Geduld, ihrem aufmerksamen Zuhören und dem Fehlen jeglicher Feindseligkeit angesichts dessen, was häufige Angriffe sein dürften. Nestlé ist schließlich bei den Aktivisten als ein Bösewicht unter den Firmen berüchtigt und das Ziel eines jahrzehntelangen Boykotts wegen ihres Vertriebs von Kleinkindernahrung an mittellose Mütter. Nestlé wurde angeschuldigt, zu viel aus Mineralwasserquellen abgepumpt zu haben, mit der burmesischen Junta zusammenzuarbeiten, die Gewerkschaften in Kolumbien zerstört zu haben, Kakao von Farmen zu kaufen, auf denen Kinderarbeit genutzt wird und so weiter. Der Kontrast zwischen diesem Ruf und der glühenden, aufrichtigen Darstellung der Tugenden Nestlés in Umweltangelegenheiten war so groß, dass sogar ein paar linksorientierte Leute das Auditorium verlassen mussten.
Wie erklärt man diesen Kontrast? Probieren wir drei Theorien:
- Die Frau ist eine wortgewandte Lügnerin, die gut bezahlt wird, um die Interessen der Firma zu vertreten. Entweder ist sie sich zynisch der Wahrheit bewusst, die von ihren Lügen verschleiert wird, oder sie will aus Selbstschutzgründen die Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen. Wie auch immer, sie pickt sich die Rosinen aus ein paar positiven Umweltschutzgesten heraus (Nestlé beschützt die Orang-Utans!) und schöpft aus einer Fülle von dicken Akten voll mit tendenziösen Beweisen, die die PR-Abteilung des Unternehmens zusammenstellt, um jeden, der die Praktiken der Firma in Frage stellt, naiv aussehen zu lassen.
- Was die Frau sagt, ist wahr. Das Unternehmen hat aus seinen Fehlern gelernt, um ein Marktführer in Sachen Verantwortung für Soziales und Umwelt zu werden. Es gibt viele wohlmeinende Menschen, die das Unternehmen immer noch kritisieren, aber nur deswegen, weil sie die wahre Geschichte nicht kennen: Nestlé ist nicht nur ein Vorreiter auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, sondern die Industrie als Ganzes ist dabei ihre Praktiken zu verbessern. Es gilt immer noch Herausforderungen zu bewältigen, aber alles bewegt sich in die richtige Richtung. Die Menschen in der Industrie sorgen sich genauso um die Umwelt wie Sie und ich. Jetzt beginnen sie, die Zusammenhänge zu verstehen, und mit Ihrer Hilfe werden sie weitere Fortschritte machen.
Ich hoffe, ich bin mit meiner zweiten Interpretation der Sichtweise der Vizepräsidentin von Nestlé gerecht geworden. Ich hatte später eine Unterhaltung mit ihr und fand sie sehr menschlich, hochintelligent und durchaus bereit zur Selbstreflexion. Mein Eindruck ist, dass sie tief und ehrlich an ihre Firma und ihre Arbeit glaubt. Lassen Sie mich also noch eine dritte Erklärung vorschlagen:
- Sie glaubt nicht nur ehrlich an das, was sie sagt, sondern es ist auch innerhalb ihres Bezugsrahmens unwiderlegbar. Wenn wir die endlose Beschleunigung des modernen Lebens als gegeben annehmen, dann ist der Komfort von sicherem, in Flaschen abgefülltem Wasser tatsächlich eine Wohltat für Menschen, die andernfalls gezuckerte Limonaden trinken würden. Es ist auch eine Wohltat, wenn wir die kontinuierliche Verschlechterung des öffentlichen Leitungswassers, seinen Chlorgehalt und seine chemische Verschmutzung als gegeben nehmen. Und wenn wir unsere heutige auf Erdöl basierende Ökonomie als gegeben annehmen, ist es, so weit ich weiß, wahr, dass Plastikflaschen nicht viel mehr zusätzlichen Schaden verursachen.
Die Positionen der Vizepräsidentin sind unanfechtbar solange wir nicht den Geltungsbereich der Konversation ausweiten. Wir müssen Fragen auf einer anderen Ebene stellen: “Welche Rolle spielen Plastikflaschen bei der Beschleunigung des modernen Lebens? Warum findet diese Beschleunigung statt, und ist sie etwas Gutes?” Oder: “Woher kommt unsere Betriebsamkeit und unser Bedürfnis nach Komfort?” “Warum wird das Leitungswasser ungenießbar?” “Warum haben wir ein System, in dem es in Ordnung ist, Abfallprodukte zu erzeugen, die für andere Lebensformen unbrauchbar sind?” Und: “Ist das `nachhaltige Wachstum´, für das Nestlé ein Paradebeispiel ist, auf einem begrenzten Planeten möglich?”
Ich glaube, dass das Gespräch sogar noch tiefer gehen muss. Was diese Vizepräsidentin tat, um ihr Unternehmen rechtfertigen zu können, tun andere, um unsere gesamte Zivilisation zu rechtfertigen, solange wir ihnen bestimmte Prämissen über die Natur des Lebens, des Selbst und der Realität zugestehen. Wenn wir zum Beispiel die Prämisse zulassen, dass das primitive Leben “einsam, arm, scheußlich, gewaltsam und kurz” war, dann fährt man mit allen Zweifeln an den allumfassenden Vorzügen der Technologie gegen eine Betonwand. Gleichfalls, wenn wir die Prämisse gestatten, dass die Natur keine inhärente Tendenz zur Organisation besitzt, und dass das Leben nur eine zufällige Ansammlung von unbelebten austauschbaren Bausteinen ist, die von sinnlosen Kräften durcheinandergeworfen werden, dann müssen wir selbstverständlich keine Skrupel haben, die Natur zu unterwerfen und sie für unsere Zwecke umzubiegen. Und schließlich, wenn wir die Prämisse gestatten, dass jeder von uns ein vereinzeltes, separates Selbst ist, das danach trachtet, sein genetisches Eigeninteresse zu maximieren, dann stehen letzlich die umfassenden gesetzlichen und ökonomischen Vorgaben unserer Gesellschaft außer Zweifel, mit denen versucht wird, diese frevelhafte Natur zu überwinden und sie für pro-soziale Zwecke umzulenken.
Die Ansichten der Vizepräsidentin von Nestlé sind mehr oder weniger solide innerhalb des Bezugssystems, das ich oben beschrieb, des Bezugssystems von der Verbesserung des Lebens durch Technologie und von der fortschreitenden Unterwerfung der inneren und der äußeren Natur. Ihre Ansichten werden sich nicht ändern, solange nicht auch dieses Bezugssystem zerfällt. Sie sind ganz in der Geschichte vom Aufstieg beheimatet.
Eines Morgens hörte ich einen anderen gescheiten Kerl in der Sendung von Diane Rehm, einen Berater in der Energieindustrie. Eines der Themen war die XL- Erweiterung der Keystone-Pipeline, über die die Athabasca-Ölsande aus der westkanadischen Provinz Alberta zu den Raffinerien an der Golfküste transportiert werden sollen. Der Berater vertrat folgende Ansicht, die ich paraphrasieren werde: “Sehen sie, wenn wir die Pipeline nicht bauen, werden die Raffinerien an der Golfküste einfach schweres Rohöl von woanders raffinieren, und die Ölsande werden statt in die USA nach Asien exportiert. Die Pipeline zu verhindern hätte keinen Einfluss auf den Klimawandel oder auf die Zerstörung von Ökosystemen. Dieses Öl wird sowieso extrahiert und raffiniert werden, also kann es genausogut auf eine Art und Weise geschehen, die den Vereinigten Staaten Jobs bringt.”
Moralphilosophen hätten großen Spaß diese Argumente auseinanderzunehmen, mit denen man genausogut rechtfertigen könnte, Körperteile aus den Konzentrationslagern der Nazis zu verkaufen. Ob ich sie verkaufe oder nicht, die Lager sind in Betrieb, also könnte ich diese Körperteile genauso gut verwenden, richtig? Es geht mir hier aber trotzdem nicht darum, die logischen Mängel in der Rechtfertigung für die Keystone XL-Pipeline oder für Plastikflaschen aufzudecken, sondern zu zeigen, wie sehr die Dinge, die wir als gegeben annehmen, unsere moralischen Entscheidungen beeinflussen. In der Wirklichkeitsblase, in der diese Leute leben, sind ihre Argumente unzweifelhaft sinnvoll. Wenn es tatsächlich ein unveränderbares Faktum im Universum ist, dass Ölsande extrahiert werden, dann wäre es sinnlos und kontraproduktiv, sich überheblich zu weigern, diese Tatsache aufzugreifen und zu nutzen. Wäre unsere heutige auf Erdöl basierende Zivilisation unveränderbar, dann würden wir Nestlé vielleicht dafür loben, dass die Firma die Abfallprodukte der Erdölindustrie einer guten Verwendung zuführt. Wenn wir die wachsende Betriebsamkeit im Leben der Menschen als gegeben annehmen, dann müssen wir den Komfort begrüßen, der das moderne Leben erträglich macht. Im Rahmen des für sie gültigen Bezugssystems tun diese beiden gescheiten Menschen etwas Gutes.
Woher wissen Sie, dass Sie nicht wie diese Vizepräsidentin von Nestlé sind? Woher wissen Sie, dass der Splitter in deren Auge nicht das Spiegelbild des Balkens in Ihrem eigenen ist? Was Sie beide wahrscheinlich gemeinsam haben, und was einen Klimawandel-Leugner und einen Klimawandel-Panikmacher eint, ist der Glaube daran, dass die Fakten und die Logik auf der eigenen Seite liegen, und dass die eigene Position auf diesen beruht. Aber offensichtlich sagen uns die Flüchtigkeit von Fakten und die Leichtigkeit, mit der die Vernunft in den Dienst einer Geschichte gestellt werden kann, dass es, um Ansichten zu verändern – und unsere Ansichten müssen sich ändern – einen umfassenderen, ganzheitlichen Wandel in unseren Geschichten und allem, was an ihnen hängt, bis ganz hinunter zu unserem Selbstverständnis, unseren Gewohnheiten und den grundlegenden Wahrnehmungen der Welt erfordert. Die Gesamtheit all dessen nenne ich eine Geschichte von der Welt.
Selbst “Fakten” so grundlegend wie die universellen Konstanten der Physik oder das Zweite Gesetz der Thermodynamik sind auf einer gewissen Ebene von subjektiven Entscheidungen darüber abhängig, wem und was wir glauben. Rupert Sheldrake beschreibt zum Beispiel, wie sich die anerkannte Lichtgeschwindigkeit in den 1930ern und 40ern für einen Zeitraum von 18 Jahren um 20 km/s änderte – eine Differenz, die in allen Experimenten auf der ganzen Welt konsistent war. Dann im Jahr 1945 nahm die Lichtgeschwindigkeit wieder ihren ursprünglichen Wert von vor 1928 an. Diese Diskrepanz übersteigt bei weitem die Fehlertoleranz der Messungen. Sheldrake dokumentiert auch eine Variabilität von G, der universellen Schwerkraftkonstante. Ist es möglich, dass Fakten das sind, was die Ethymologie des Wortes nahelegt – etwas, das gemacht wurde?
Aber wieder zurück zu Ihrem Schwager. Wenn Sie ihn nicht nieder-argumentieren können, wie können Sie seine Ansichten sonst verändern? Und auf einer allgemeineren Ebene: Als Menschen, die versuchen die Welt zu verändern, wie können wir die Geschichte unserer Gesellschaft ändern?
Geht man von der situationistischen Perspektive aus, dann tendieren die Menschen dazu, eine Reihe von Ansichten anzunehmen, die mit der Gesamtheit ihrer Lebenserfahrungen im Einklang stehen. Das sind die Fundamente der Ansichten, von denen die sogenannten “Meinungen” nur der sichtbarste, oberflächlichste Aspekt sind. Meinungen sind Merkmale eines Seinszustands. Daher muss man, um Meinungen und Ansichten zu verändern, das Fundament der “Situation” verändern; man muss jemandem eine Erfahrung verschaffen, die nicht in die bestehende Geschichte passt, oder die mit einer neuen im Einklang steht. Das Gleiche gilt auch für die Veränderung der Geschichten, die auf einer körperschaftlichen, sozialen oder politischen Ebene wirken.
Ein Beispiel für die Unterbrechung der alten Geschichte sind klassische Aktionen der Arbeiter wie Streiks. Es reicht nicht immer, dass die Arbeiter höflich um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen bitten, weil die “Geschichte” – das System von Übereinkünften, Konventionen, Geschäftspraktiken, Marktaussichten, Erwartungen der Shareholder und so weiter – keinen Platz dafür bietet, dass die Bosse ja sagen. Es ist notwendig, diese Geschichte außer Kraft zu setzen. Aber um tatsächlich wirksame Agenten des Wandels zu sein, müssen wir vorsichtig vorgehen, um nicht die tiefere Geschichte vom “Bösen” heraufzubeschwören und damit zu bestärken. Die Aussage des Streiks könnte Ausdruck des Gefühls sein: “Wir streiken, damit unsere Bedürfnisse und Interessen und die Ungerechtigkeit unserer Lage sichtbar werden. Indem wir das Unrecht sichtbar machen, geben wir allen Beteiligten die Chance das Richtige zu tun,” im Gegensatz zu dem aufrührerischen: “Die Gier der Firma ist zu weit gegangen! Wir werden die Betriebsführung dazu zwingen, das Richtige zu tun, selbst gegen ihren Willen.” Die Streikenden müssen nicht einmal erwarten, dass die Autoritäten milder reagieren werden, wenn man ihnen mit nicht-urteilenden Worten begegnet, aber das könnte eine Auswirkung auf die öffentliche Meinung haben.
Egal wie die Aussage ist, der Effekt einer Arbeitsunterbrechung ist störend für die Geschichte, die wir “Business as usual” nennen. Im großen Maßstab macht ein Generalstreik das Gleiche. Er verunmöglicht, dass die Menschen, die fest daran glauben, dass alles in Ordnung ist, diesen Glauben weiter hegen.
Eine der in unserer Zeit aufgekeimenden Ideen mit dem stärksten Störpotential, ist ein Schuldenstreik. Wie ein Arbeitsstreik geht er weit über reinen Symbolismus und weit darüber hinaus “Bewusstsein zu wecken” und trifft genau das Herz der Übereinkünfte und Narrative, auf deren Basis unsere Gesellschaft funktioniert. Würde ein signifikanter Anteil von Personen und Nationen ihre Schulden nicht anerkennen, dann bräche die finanzielle Ordnung zusammen und bereitete das Feld für radikale Reformen, die den heutigen Entscheidungsträgern nicht einmal in den Sinn kommen. Zur Zeit reichen selbst minimale Reformen nicht einmal annähernd aus, um die Plünderung der Biosphäre und die Verarmung von Milliarden Menschen rückgängig zu machen, und selbst die sind schon zu viel, um politisch ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden. Ein Schuldenstreik würde die Illusion torpedieren, dass es keine Alternative gebe. Solange die meisten Menschen sich in das gegenwärtige System fügen, werden die, die viel in seine Aufrechterhaltung investiert haben, Wege finden, weiterhin so zu tun als wäre es nachhaltig.
Hier kann wiederum der Streik in einer Sprache formuliert werden, die nicht das “wir-gegen-die” Denken verstärkt. Wir sollten uns besonders davor hüten, das Thema unter dem Banner von Gier zu formulieren. Sei es die Gier von Unternehmen, die Gier von Bankiers, oder die Gier der Reichen – Gier ist ein Symptom, keine Ursache unserer Kernprobleme. Das Gleiche gilt auch für Unmoral und Korruption.
Gegen die Perfidien der amoralischen Unternehmen und korrupten Banken zu wettern, befriedigt unsere Wut und gibt uns das Gefühl von Selbstgerechtigkeit, aber es ist letzten Endes eine Ablenkung von den tieferen systemischen Problemen. Daher würde ich ein Leitbild für den Schuldenstreik entlang folgender Aussagen vorschlagen: “Unser gegenwärtiges System hält Studenten, Familien und Regierungen als Geiseln, während selbst die Kreditgeber dem gnadenlosen Druck ausgeliefert sind, die Erträge zu maximieren. Es ist Zeit, dass dieses System aufhört. Daher weigern wir uns, unsere Schulden zurückzuzahlen, um auf die Ungerechtigkeit eines Systems aufmerksam zu machen, das die Gesellschaft und den Planeten in den Ruin treibt.”
Was wollen wir wirklich? Geht es uns darum, über die Bösewichte zu triumphieren und die Gewinner zu sein? Oder geht es darum, das System grundlegend zu verändern? Sie denken vielleicht, dass diese beiden Ziele einander nicht entgegenstehen. Ich denke, sie tun es: erstens, weil das Muster “das Böse zu bekämpfen” aus der gleichen Mentalität kommt wie unser auf Konkurrenz und Herrschaft basierendes System; zweitens, weil wir, wenn wir jene dämonisieren, die wir als “die anderen” wahrnehmen, sie in genau das Verhalten treiben, das unsere Dämonisierung rechtfertigt; drittens, weil es nicht wahrscheinlich ist, dass wir in dem Spiel, dessen Regeln von der Machtelite gemacht sind, gewinnen werden; viertens, weil wir, selbst wenn wir gewinnen, nur besser als sie darin geworden sein werden, wie sie zu sein; fünftens, weil die Verbündeten, die wir anwerben, um über diese gierigen Menschen zu triumphieren, uns wieder verlassen werden, wenn wir dieses Ziel erreicht haben, selbst wenn die tieferen Systeme unverändert geblieben sind. Das passiert fast jedes Mal, wenn ein Diktator gestürzt wird. Wenn sie glauben, dass sie gewonnen haben, gehen die Leute nach Hause; jemand anderer tritt in das Machtvakuum, und bald geht alles mehr oder weniger wieder in den Zustand zurück, in dem es vorher war.
Traditionelle populistische Strategien wie Streiks, Proteste, Protestaktionen, ziviler Ungehorsam und so weiter spielen eine wichtige Rolle dabei, die vorherrschende Geschichte zu unterbrechen. Aber sie allein sind sowohl riskant als auch nicht ausreichend für die Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Riskant sind sie, weil sie, selbst wenn sie aus einer unvoreingenommenen und von Mitgefühl getragenen Haltung kommen, sehr leicht die alte Gewohnheit von Hass auslösen. Es liegt in ihrer Natur, den Eindruck zu erwecken, dass es zwei Seiten gibt, von denen eine gewinnen und die andere verlieren wird, von denen auf der einen die Guten und auf der anderen die Bösen stehen. Sie sind nicht ausreichend, weil sie die vorherrschende Geschichte nur auf einer Ebene unterbrechen. Sie unterbrechen vielleicht die Geschichte, die wir “die Ökonomie” nennen, aber sie lassen den tieferen, weniger bewussten Mythos unberührt, der unsere Zivilisation definiert, und in den die Ökonomie eingebettet ist. Diese Einschränkung bedeutet nicht, dass diese Strategien nicht nützlich oder notwendig sind. Aber wir müssen genauso auf anderen Ebenen arbeiten. Sehen wir uns also noch andere Möglichkeiten, andere Arten von Möglichkeiten an, um die Geschichte der Separation zu unterbrechen.
Ein Beispiel ist “Culture-Jamming”, das von Possen wie gefälschten Werbungen bis zu Kampagnen wie dem “nationalen Kaufnix-Tag” und der “TV Abdreh-Woche” reichen. Subversive und illegale Kunst wie die von Banksy fällt auch in diese Kategorie, wie vielleicht auch die Invasionen von Clowns in Bürogebäuden oder bei geschäftlichen Besprechungen. “The Yes Men”, die Unternehmens- und Regierungsvertreter in Fernsehinterviews darstellen, sind auch Culture-Jammers. Sie alle entblößen die fehlende Authentizität, die Verrücktheit oder die Unmenschlichkeit der vorherrschenden Narrative.
Eine weitere Form von Unterbrechung ist es, einfach ein lebendiges Beispiel für einen anderen Lebensstil zu geben mit anderer Technik, anderer Landwirtschaft, anderem Geld, anderer Medizin, anderen Schulen… und im Gegensatz dazu die Enge und Fehlfunktion der herrschenden Institutionen zu verdeutlichen. Ich stimme dem Spruch von Buckminster Fuller nicht ganz zu: “Du kannst Dinge nie verändern, indem du die existierende Realität bekämpfst. Um etwas zu verändern, baue ein neues Modell, das das existierende obsolet macht,” weil manchmal die existierende Realität diese neuen Modelle unterdrückt. Erlauben Ihre lokalen Bauvorschriften Komposttoiletten oder Grasdächer? Aber dennoch liegt darin eine Wahrheit.
Gehen wir jetzt noch eine Ebene tiefer. Schließlich beruhen unsere Systeme von Recht, Ökonomie und Politik auf einem Fundament unsichtbarer Mythen, Gewohnheiten und Ansichten. Wir müssen auch auf dieser Ebene mit Geschichten arbeiten. Die oben erwähnten Studien der Universität von Michigan weisen darauf hin, was dieser tiefergehende Ansatz sein könnte. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Menschen, nachdem man mit ihnen eine Übung zur Selbstbestätigung gemacht hatte, besser in der Lage waren, Informationen zu berücksichtigen, die ihren Ansichten widersprachen als die Kontrollgruppe. Vermutlich fühlten sie sich weniger bedroht und waren dadurch aufgeschlossener.
Der direkteste Weg, um die Geschichte der Separation an ihrem Fundament zu unterbrechen, ist es, jemandem eine Erfahrung von Nicht-Separation zu vermitteln. Eine Geste der Großzügigkeit, Aufmerksamkeit, Wahrheit, der bedingungslosen Akzeptanz, bietet ein Gegenbeispiel für die Weltsicht der Separation und verletzt solche Glaubenssätze wie: “jeder ist da draußen auf sich allein gestellt” und bestätigen das angeborene Bedürfnis zu geben, zu erschaffen, zu lieben und zu spielen. Solche Handlungen sind nur Einladungen – sie können niemanden dazu zwingen, auf Separation beruhende Glaubenssysteme zu lockern. Großzügigkeit kann immer interpretiert werden als: “Er versucht, von mir etwas zu bekommen.” Versöhnlichkeit kann als Manipulation betrachtet werden (was falsche Versöhnlichkeit oft auch ist). Wahrhaftigkeit kann ignoriert werden. Aber zumindest die Einladung ist da.
Als ich in meinen Zwanzigern in Taiwan lebte, machte ich die Bekanntschaft eines wunderbaren Musikers und Künstlers, den ich W. nennen werde. Ich bewunderte und beneidete ihn für seine Kreativität und Freiheit, und ich wollte, dass er mich auch mochte und bewunderte. Also verwickelte ich ihn eines Tages in ein Gespräch, in dem ich versuchte ihn zu beeindrucken, indem ich nebenbei erwähnte, dass ich fließend Chinesisch spreche und viel Geld als Übersetzer verdiente und so weiter. Ich bemühte mich sehr, ungezwungen zu wirken, damit es nicht so aussah, als würde ich prahlen. Er hörte mir aufmerksam zu, sagte aber nichts. Plötzlich dämmerte mir, dass W. nicht nur unbeeindruckt war, sondern dass er mich komplett durchschaute. Mein ganzes Spiel war für ihn offensichtlich. Aber statt dass er mich darauf ansprach, schloss er meine aufsteigende Scham kurz, indem er mich ansah, mit Liebe in seinen Augen, und sanft sagte: “Ist gut, mein Freund.”
Diese Worte waren mächtiger als jeder Vorwurf. Sie trafen mich wie ein Wunder. Er war jemand, der etwas sah, für das ich mich selbst schämte, aber er ließ sich nicht auch auf dieses Urteil ein. Er bestärkte mich. Er liebte mich dort, wo ich mich selbst nicht lieben konnte. Das war etwas, das nicht in meine Welt passte. Ich kann nicht behaupten, dass es mich unmittelbar veränderte, aber diese Erfahrung, bedingungslos akzeptiert zu werden, prägte meine Psyche und machte “die Wirklichkeit” ein bisschen weniger wirklich.
Nach einer lebenslangen Dressur in Selbstablehnung zeigt uns bedingungslose Akzeptanz eine neue Möglichkeit. Das ist eine transformative Kraft, die wir alle besitzen. Wir alle können einander Erfahrungen vermitteln, die lebendige Zurückweisungen der auf Separation basierenden Ansichten sind.
Der Dalai Lama wurde einmal gefragt: “Was ist die wichtigste Eigenschaft eines spirituellen Lehrers?” Seine Antwort: “Heiterkeit.” Diese Heiterkeit ist eine Art Einladung, die besagt: “Es fühlt sich gut an hier zu sein. Möchtest Du nicht auch kommen?”
Das allgemeine Prinzip die Geschichte zu unterbrechen geht weit über den Rahmen der traditionellen Vorstellungen von Aktivismus hinaus und erstreckt sich auf alle Handlungen, die nicht auf Gewalt oder Konfrontation basieren. Ein Beispiel wäre stille Zeugenschaft: Amische Menschen, die Gerichtssääle bevölkern, um friedlich die Rechtsausübung zu bezeugen, oder Occupy-Protestierende, die still zusehen, wie die Richterin, die die Anwendung von Pfefferspray anordnete, aus ihrem Büro geht. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir fällt es leichter die richtige Sache zu tun, wenn ich weiß, dass jemand zusieht.
Hwang Dae-Kwon, den ich Ihnen schon vorstellte, erzählte mir von einer kürzlichen Protestaktion, die er und ein paar Pazifistenkollegen am Baufeld einer neuen U.S.-Militärbasis in Korea, durch die ein jahrhundertealtes Dorf zerstört werden würde, durchgeführt hatten. Sie gingen einfach jeden Morgen und jeden Abend zum Baufeld und hielten stundenlange “Verbeugungsmeditationen” (wiederholte vollständige Niederwerfung) ab. Keine Medienkampagne. Keine Plakate. Keine Transparente. Bald wurden die Leute neugierig, und über kurz oder lang war die Sache in allen Medien. Die Dinge liefen gut, erzählte mir Hwang, bis die üblichen militanten Protestierenden beschlossen sich einzumischen. Sie überschwemmten alles mit ihrem Ärger und der Gewalt, und bald wurde die Medienberichterstattung feindlicher. Der Protest verstieß nicht mehr gegen bestehende Berichte über Recht und Ordnung, unzufriedene Protestierende und so weiter.
Bei diesen Beispielen sehen wir die Verschmelzung von Aktivismus und Spiritualität, die in diesem Buch schon Thema war. Weil unsere ökonomischen und politischen Systeme auf unseren gemeinsamen Geschichten gebaut sind, haben Aktionen, die nicht direkt politische Themen ansprechen, trotzdem einen politischen Einfluss.
Ich bitte oft die Teilnehmer meiner Seminare Geschichten zu erzählen, die ihre Sicht auf das, was real, möglich und “der Lauf der Dinge” ist, erweiterten. Neulich erzählte ein Mann aus Colorado namens Chris über ein Seminar zum Thema Immobilieninvestitionen, das er viele Jahre lang geleitet hatte. Es handelte sich um eine mehrtägige Veranstaltung für 160 Immobilieninvestoren, und sie war, wie er selbst zugab, ziemlich langweilig.
Am dritten Tag überkam ihn diesmal etwas. Er legte seine Präsentation beiseite, und, wie er es beschrieb, channelte quasi eine Übung, die er einmal in einem Workshop von Tony Robbins erlebt hatte. Er bat jeden im Publikum, in seine Brieftasche zu greifen und Geld daraus zu nehmen. “Wenn sie keine großen Scheine haben, borgen sie sich einen von ihrem Nachbarn.” Dann sagte er zu ihnen: “Und jetzt zerknüllen sie das Geld in ihrer Hand. Ich bitte sie, wenn ich bis drei gezählt habe, etwas zu tun ohne darüber nachzudenken. Wenn ich bei drei angekommen bin, nehmen sie das Geld und werfen sie es mit einem Schrei in die Luft. Tun sie es einfach. Jetzt: Eins, zwei, drei!”
Alle im Raum taten, was ihnen gesagt wurde, und als sie einmal schrien, konnten sie nicht mehr damit aufhören. Als sich die Lage langsam wieder beruhigte, sagte er zu ihnen: “Gut, und jetzt stelle ich sie vor eine Wahl. Sie können entweder gehen und ihr Geld aufheben und damit zeigen, dass das Geld sie kontrolliert, oder sie können es am Boden liegen lassen, weil sie der Herr über das Geld sind.” Für den Rest des Tages war das Seminar magisch. Die Luft im Raum schien zu vibrieren.
Am Ende dieses Nachmittags war es Zeit, den Seminarraum des Hotels zu verlassen, in dem die Veranstaltung stattfand. “Was sollen wir mit dem Geld tun?”, fragten die Teilnehmer. “Wenn wir wirklich nicht vom Geld versklavt sind, dann werden wir es hier am Boden liegen lassen,” sagte Chris. “Es ist ein Geschenk an die Putzfrauen.” Ein Mann klaubte mit finsterem Gesicht sein Geld auf und stelzte hinaus. Die anderen ließen es da. Chris blieb eine Weile in dem leeren Raum, dessen Boden mit tausenden von Dollars übersät war. Bald kamen die Raumpflegerinnen des Hotels, es waren fünf. Sie blieben wie angewurzelt mit offenem Mund stehen und starrten auf den Boden. Was tun?
Natürlich gingen sie und fragten den Typen im Anzug. “Señor,” sagten sie, “was ist das?” Sie sprachen nicht viel Englisch, und Chris sprach kein Spanisch. Er versuchte zu erklären, dass es für sie war, mit wenig Erfolg. “Für Sie, für Sie,” sagte er, aber es war, als ob sie ihn nicht hören könnten. Denn dass das wahr sein sollte, war in ihrer Welt eine Unmöglichkeit. Rasch hatten sie ihren Vorgesetzten geholt, und Chris erklärte ihm, dass das Geld für die Putzfrauen war. Als der Vorgesetzte schließlich verstand, dass das ernst gemeint war, überwältigte ihn die Emotion. “Das ist mehr Geld, als sie je in einem Monat verdient haben,” sagte er tränenerstickt. “Ich weiß nicht, was sie hier drinnen getan haben, aber sie sind in unserem Hotel jederzeit wieder herzlich willkommen!”
Auch die restlichen zwei Tagen des Seminars hielt die Magie an. Chris erzählte den Teilnehmern von den Raumpflegerinnen, und der Geist von Großzügigkeit war ansteckend. Als sie zum Mittagessen gingen, zahlten die Leute in der Cafeteria für andere, die hinter ihnen in der Schlange standen. Er missachtete weiter sein Manuskript für das Seminar und sprach aus einer Art intuitivem Flow. Jeder Prozess, den er für sie anleitete, war erstaunlich. Jahre später, sagte er, bekommt er immer noch E-Mails von diesen Teilnehmern, die ihm erzählen, dass ihr Leben seither nicht mehr dasselbe war. “Lassen sie mich wissen, wenn sie noch ein Seminar halten,” schreiben sie, “egal was das Thema ist.” Die Macht dieser Geste von Großzügigkeit reichte weit über die rein wirtschaftliche Bedeutung für diese Putzfrauen aus der Arbeiterschicht hinaus. Seine Macht lag darin, dass er gegen die Gesetze der Wirklichkeit, wie sie die Putzfrauen, der Vorgesetzte und die Seminarteilnehmer gekannt hatten, verstieß. An diesem Tag war das Unmögliche geschehen. Erfahrungen wie diese lehren uns: “Die Welt funktioniert nicht so, wie wir dachten. Die Wirklichkeit geht über das hinaus, was wir für möglich hielten.”
i Siehe eine Diskussion dieser Forschungen im Artikel von Joe Keohane: “How Facts Backfire” in der Ausgabe vom 11. Juli 2010 des Boston Globe.