Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich
Kapitel
Kapitel 28: Psychopathie
Wenn etwas dich beißt, steckt es in deinen eigenen Kleidern. (Suaheli Sprichwort)
Ich habe behauptet, dass nicht der Sieg über die Machthaber, sondern deren Transformation Veränderung bringen wird. Ich habe gesagt, wir sind grundsätzlich ein und dasselbe Wesen, das durch viele Augenpaare auf die Welt schaut. Ich habe beschrieben, wie unsere Auffassung über das Böse vom fehlenden Verständnis dafür kommt, wie es ist, ein Anderer zu sein. Ich habe versichert, dass wir alles, was wir anderen antun, auch uns selbst antun, und dass wir das auch spüren. Und ich habe das Prinzip des Geschenks ins Feld geführt: dass wir alle hier sind, um mit unseren Gaben zu etwas Größerem beizutragen, und dass wir erst zufrieden sein werden, wenn wir das tun. In Reaktion auf all das führen Leute manchmal als Gegenbeispiel die Psychopathen ins Treffen, eine bestimmte Sorte Mensch, die vermeintlich kein Mitgefühl hat und weder Liebe noch Scham empfinden kann.
Diese Leute seien, so sagt man, nur an sich selbst interessiert und zeigen keine Gewissensbisse, wenn sie knallhart ihre kurzfristigen Interessen verfolgen. Gefühllos, charmant, charismatisch, wagemutig und skrupellos tendieren sie dazu, an die Spitze in Wirtschaft und Politik gespült zu werden. In großem Umfang stellen sie die Machteliten, und es sei naiv zu glauben, dass etwas anderes als rohe Gewalt sie aufhalten könne. Ohne Gnade, ohne Gewissen, sogar ohne die Fähigkeit, irgendetwas außer ein paar Proto-Emotionen zu spüren, seien sie der Inbegriff des Bösen. Nach Angaben vieler Forscher sind sie unheilbar. Sie wollen gar nicht geheilt werden. Sie sind damit zufrieden wie sie sind.
Es gibt keine einhellige Meinung über die Ursachen von Psychopathie. Einer der prominentesten Experten auf dem Gebiet, Robert Hare, sagt gerade heraus, dass die Forscher in Wahrheit im Dunkeln tappen. Es mag eine gewisse genetische Veranlagung dazu geben, aber selbst das ist ungewiss.
Lässt man diese Narration einfach so stehen, führt sie wieder die Geschichte von Gut gegen Böse in unsere Weltsicht ein. Wer weiß denn, wer ein Psychopath ist und wer nicht? “Psychopath” wird zum wissenschaftlich abgesegneten Begriff für einen “bösen Menschen”.
Sich auf Psychopathie zu berufen, um die Geschichte von Gut gegen Böse und alles was dazu gehört (zum Beispiel Gewalt als das notwendigerweise vorrangige Mittel zur Weltveränderung) für gültig zu erklären, ist irreführend. Nehmen wir für einen Augenblick an, dass es eine unterscheidbare Kategorie von unverbesserlichen Menschen gibt, die wir Psychopathen nennen, dann ist es auch war, dass die Bedingungen, unter denen sie Erfolg haben, systemischer Natur sind. Die traditionelle Sicht sowohl in der Evolutionsbiologie als auch in der Ökonomie behauptet im Wesentlichen, dass unsere elementare Natur etwas ziemlich Psychopathisches hat: Wir sind getrieben unser Eigeninteresse zu maximieren, und Eigenschaften, die diesem Eigeninteresse zu widersprechen scheinen, existieren nur, weil sie ihm auf eine nicht sofort offensichtliche Weise doch dienen. Das Beispiel Altruismus als eine Art Balzverhalten kommt einem in den Sinn, oder Großzügigkeit als ein Mittel, um Status und Kontrolle über andere zu erringen. Dieses Paradigma ist fixer Bestandteil unsers Wirtschaftssystems. Wer nicht das Eigeninteresse seiner Firma maximiert, wird von Firmen, die das tun, aus dem Rennen geworfen. Und schon wenn Verbraucher versuchen, möglichst günstigst einzukaufen, steht der Anreiz in Form des Preisschilds der Regung entgegen, die Arbeiterinnen, die den Gegenstand hergestellt haben, existenzsichernd zu entlohnen oder umweltverantwortlichere Produktionsweisen zu ermöglichen. Solche Gegenstände sind teurer.
Da wir in einem System leben, das Psyschopathie belohnt, ist es kein Zufall, dass die Psychopathen zur Spitze aufsteigen, und dass psychopathische Tendenzen in jedem von uns an die Oberfläche streben. Es ist ein Fehler, die Psychopathen für unsere gegenwärtigen Zustände verantwortlich zu machen; sie sind das Ergebnis und nicht die Ursache.
Unter welchen Umständen wird man ein kalter, gefühlloser Mensch? Unter welchen Umständen sperrt man sein Einfühlungsvermögen weg? Wann manipuliert man andere zu seinem eigenen Vorteil? Wenn ich mich selbst dabei ertappe, ist es meistens dann, wenn ich mich unsicher fühle.
Unsicherheit ist ein fixer Bestandteil unserer Geschichte von der Welt: das separate Selbst in einem feindlichen Universum inmitten von konkurrierenden Anderen, blindwütigem Zufall und unpersönlichen Naturkräften. Unsicherheit ist ein ebenso fester Bestandteil all jener Strukturen, die von dieser Geschichte abgeleitet sind, wie etwa das Wirtschaftssystem, das uns zu Konkurrenten macht, um unsere grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen, selbst wenn objektiv gesehen Wohlstand für alle vorhanden ist. Allein schon in einer Massengesellschaft zu leben, in der die Gesichter, die wir sehen, keine Namen haben, in der Fremde unsere Bedürfnisse gegen Bezahlung erfüllen, und wo selbst Nachbarn wenig über unsere Geschichten wissen, trägt zu derselben allgegenwärtigen Unsicherheit bei. Unser Verhalten in der Welt der Separation bestätigt die Prämisse dieser Welt: Es macht uns zu egoistischen, nutzenmaximierenden Quasi-Psychopathen.
Es gibt immer einige Menschen, die einen gegebenen kulturellen Wesenszug in extremer Form verkörpern und uns so einen Spiegel vorhalten, damit wir ihn in uns selbst erkennen können. Solche wären auch die Psychopathen.i
Und trotzdem haben Menschen mit psychopathischen Tendenzen heute viel Macht und werden auch alles tun, um das, was sie bedroht, zu verhindern. Heißt das, wir müssten nun doch Gewalt anwenden? Ich meine nicht, dass wir sie kategorisch ausschließen sollten. Es gibt Situationen, in denen ich persönlich Gewalt anwenden könnte, beispielsweise wenn jemand meine Kinder bedroht. Aber es ist gefährlich von solchen Situationen auf andere zu schließen: Ehe ich mich´s versehe, braut jemand das Szenario einer “tickenden Zeitbombe” zusammen, um Folter als Mittel für politische Zwecke zu rechtfertigen mit dem Argument, dass auf indirekte Weise meine Kinder bedroht werden. Darüber hinaus hält selbst der Versuch ethische Prinzipien festzulegen, wann Gewalt angemessen ist oder nicht, eine gefährliche Illusion aufrecht: dass wir Entscheidungen treffen sollten (und manchmal tatsächlich auch treffen), indem wir uns vorher Leitprinzipien überlegen, aus denen heraus wir dann später in der betreffenden Situation handeln. Aber tatsächlich glaube ich, dass, was auch immer ich hier schreibe und welche Überzeugungen ich auch immer bekunde, wenn meine Kinder wirklich einmal bedroht werden, etwas anderes das Kommando übernehmen würde. Würde ich kämpfen? Vielleicht. Würde ich dem Mann gefasst begegnen und sagen: “Sie müssen ziemlich verzweifelt sein um das zu tun. Wie kann ich ihnen helfen?” Vielleicht. Diese Entscheidung wäre sicherlich zum Teil von lebenslangen Erfahrungen und Erlerntem abhängig. Wenn ich die Gewaltlosigkeit in Theorie und Praxis gründlich erforscht habe, ist es vielleicht wahrscheinlicher, dass ich sie erfolgreich in einem Fall anwende, wo Kampf tatsächlich nicht die beste Entscheidung ist. Aber es ist etwas ganz anderes, den Geist des gewaltlosen Handelns zu absorbieren und zu integrieren, als das in der Form einer Regel zu formulieren in dem Glauben, diese im gegebenen Moment dann auch tatsächlich bei sich durchzusetzen. Der Anspruch, “ein Mann mit Prinzipien” zu sein, ist eine Form der Separation, ein Teil des Programms der Kontrolle. Damit versucht man, das Bauchgefühl, den Instinkt und oft auch das Herz außer Kraft zu setzen. Wie viele Gräueltaten der Geschichte wurden mit dem einen oder anderen Prinzip gerechtfertigt?
Was genau meinen wir, wenn wir sagen, dass in unserer Gesellschaft die Psychopathen an der Macht sind? Macht in der menschlichen Gesellschaft ist von einer Reihe an Übereinkünften innerhalb dieser Gesellschaft abhängig. Ein psychopathischer Konzernboss ist nicht mächtig, weil er persönlich große Muskeln oder große Waffen hat. Seine zwingende und manipulative Macht stützt sich größtenteils auf Geld und den damit verbundenen Apparat der Unternehmensführung. Am Ende des Ganzen stehen in der Tat Muskeln und Waffen bereit um jene, die sich weigern den Regeln zu gehorchen, zum Gehorsam zu zwingen, aber selbst dann muss nicht er persönlich diese Waffen handhaben. Die Gewalt wird von vollkommen anständigen Polizisten und Sicherheitsleuten ausgeübt, die nicht psychopathischer sind als jeder andere auch.
Mit anderen Worten erwächst Macht in komplexen Gesellschaften aus einer Geschichte: aus der Gesamtheit der Übereinkünfte und Narrative, die unsere Welt strukturieren. Unsere gegenwärtige Geschichte ermöglicht das Aufkommen von Psychopathie und ermächtigt den Psychopathen. Weil es eine Geschichte und nicht die Gewalt ist, die die Machthaber letztendlich ermächtigt, ist es auch die Ebene der Geschichte und nicht die der Gewalt, auf der wir handeln müssen, um ihnen ihre Macht zu nehmen und das System zu ändern. Daher ist es kontraproduktiv, Gewalt als primäres Instrument des Wandels zu verfechten – das verstärkt genau jene Geschichte von der Separation, die ja an der Wurzel unserer heutigen Lage sitzt. Eine ihrer Spielarten ist die Geschichte, in der sich die guten Menschen schließlich erheben, um die schlechten Menschen zu stürzen.
Lassen Sie uns deshalb die Kategorie “Psychopath” noch einen Schritt weiter hinterfragen. Ist es wahr, dass die Psychopathin einfach ohne Einfühlungsvermögen geboren wurde? Eine andere Erklärung ist, dass er oder sie sich wohl einfühlen kann, sich dem gegenüber aber in früher Kindheit verschlossen hat und erst dadurch unfähig wurde zu fühlen. Warum sollte das vorkommen?
Es könnte sein, dass der Psychopath das genaue Gegenteil dessen ist, was wir über ihn denken. Was, wenn der Psychopath nicht jemand ist, der ohne Gefühle geboren wurde, sondern vielmehr jemand mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit zur Empathie und Sensibilität für emotionalen Schmerz? Weil er diese Intensität nicht aushält, schottet er sich vollständig davon ab. Die meisten von uns brauchen dies nicht zu tun, weil der enorme Schmerz der Welt uns nicht ganz so stark trifft. Oder sagen wir, er trifft uns anders, ein tieferer Schmerz vielleicht, aber weniger direkt, weniger unmittelbar.
Ihnen fallen wahrscheinlich viele Methoden ein, mit denen die Kindererziehung in unserer Kultur zur Distanzierung von Gefühlen beiträgt, vor allem bei Jungen. Über die Kindheit hinaus durchzieht das unsere gesamte Gesellschaft. Haben Sie sich je gefragt, warum die Bezeichnung “cool” in den letzten fünfzig Jahren der vorrangige Ausdruck für Anerkennung und Beifall ist? Warum ist “cool” gleich “gut”? Warum ist es erstrebenswert, in unseren Emotionen kühl zu sein, nicht viel zu fühlen, sich wenig Gedanken zu machen, nichts ernst zu nehmen? Ein Grund ist vielleicht der Drang, sich aus einer Welt zurückzuziehen, die unerträglich schmerzvoll ist. Ein weiterer Grund ist, dass wir miterleben, wie so vieles zugrunde geht, das uns wichtig ist. Die Nachrichten bieten uns eine endlose Aneinanderreihung von Trivialitäten und Theater, regelmäßig gespickt mit schockierenden und anscheinend unzusammenhängenden Schreckensbildern, die wir mit einem Achselzucken hinzunehmen lernen. Machen wir uns ihnen gegenüber unempfindlich, weil wir selbst psychopathisch sind? Oder könnte es sein, dass wir spüren, dass es sich bei ihnen um eine Inszenierung handelt, um Symptome einer dahinterliegenden schweren Krankheit? Vielleicht sind wir zurückhaltend mit unseren Gefühlen, weil die vorherrschende Geschichte viel von dem verschleiert hat, worüber wir uns wirklich Gedanken machen wollen.
Viele typisch psychopathischen Verhaltensweisen lassen sich schlüssig als Folgen einer allgemeinen Abschottung vor den Gefühlen interpretieren. Abgehärtet gegen die Gefühle hat der Psychopath dennoch, wie wir alle, ein starkes psychologisches Bedürfnis zu fühlen. Deshalb neigt er zu Impulsivität, Exaltiertheit und sinnlos riskantem Verhalten, was seinem Eigeninteresse ganz und gar nicht dient. Alles, was kraftvoll genug ist, um die Mauern einzureißen, die er um sich errichtet hat, zieht ihn an. Für einige kann es die Intensität von Verliebtheit sein, für andere Mord, für wieder andere der große Deal. Es kann das große Risiko, der große Kauf, das große Zocken sein. Viele Psychopathen sind süchtig nach solchen Dingen, die ihnen, wie sie manchmal sagen, das Gefühl geben, am Leben zu sein. Die meisten akademischen Forscher glauben, die Psychopathie sei ein Zusammentreffen von zwei unabhängig variierenden Größen: Gefühlstaubheit und Impulsivität. Nach meiner Ansicht sind beide eng miteinander verbunden. Das riskante Verhalten ist ein Versuch, die Gefühlstaubheit zu durchbrechen.
Ich muss allerdings zugeben, dass es bisher wenig Forschung gibt, die das untermauern würde.ii Ich gründe das auf eigene Erfahrung – hauptsächlich mit mir selbst. Ich war ein extrem sensibles Kind, und als Reaktion auf traumatische Mobbing-Erfahrungen in meiner Jugend lernte ich, einen Großteil meiner Gefühle einzukapseln. Auch wenn diese Abschottung nicht annähernd so umfassend wie bei einem Psychopathen war, befähigte sie mich dennoch zu einigen ziemlich herzlosen, manipulativen Handlungen. Ich zeigte auch andere psychopathische Charakterzüge wie Impulsivität und einen Hang zum Drama. Ich war gefangen in einer Gefühlstaubheit und wollte verzweifelt fühlen. Tori Amos’ Gedicht sprach mich an: “Give me life, give me pain, give me my self again.”
Außerdem hatte ich auch viel Umgang mit einigen psychopathischen Menschen, von denen zumindest einer ein ausgeprägter solcher war: ein Mann, dessen Skrupellosigkeit keine Grenzen kannte. Ich werde ich C. nennen. Er hatte auch andere typisch psychopathische Wesenszüge: Er konnte sich redegewandt für alles rechtfertigen, ihm fehlte jede Scham, er zeigte eine extreme Impulsivität, hatte außergewöhnliches Charisma und großen körperlichen Mut, der oft die Grenze zur Tollkühnheit überschritt. Aber es gab ein paar Gelegenheiten, bei denen ich einen flüchtigen Blick auf etwas anderes erhaschte, eine Zartheit, eine Reinheit, die sich auf sehr verschlungenen Wegen äußerte, beispielsweise als spontane, geheime und manchmal selbstlose Gesten der Großzügigkeit oder Fürsorge. Diese waren ganz anders als die zynischen Verhaltensweisen, die er gewöhnlich an den Tag legte, um als Klassetyp dazustehen. Da gab es noch etwas anderes, ein echtes menschliches Wesen. Soweit ich weiß, liegt dieses wahrhaft menschliche Wesen immer noch tief vergraben, aber es ist da, und vielleicht erwacht es wieder – irgendwann, irgendwie.
Ob nun eine Transformation möglich ist oder nicht, aus rein praktischen Gründen wird man die meisten Psychopathen wohl aufhalten müssen. Ich habe mich aus zwei Gründen auf diese Spekulationen über die Ursprünge der Psychopathie eingelassen. Zum einen wollte ich eine Alternative zu diesem häufig angeführten Beweis für die Existenz des Bösen anbieten. Schaut man auf die Welt um uns herum, erscheint es ganz bestimmt oft so, als wären die Psychopathen an der Macht. Ich will darauf hinaus, dass das Böse eine Folge und nicht eine Ursache ist, und dass wir, wenn wir dagegen in den Krieg ziehen, zu weiterem Krieg beitragen. Psychopathie ist der extreme Ausdruck von etwas, das in uns allen und in der Kultur, die uns umgibt, existiert. Sie kommt daher, dass wir von unserem erweiterten Selbst abgeschnitten sind.
Zum anderen habe ich mich in dieses Thema vorgewagt, weil die Transformation des Psychopathen Folgen für die Transformation unserer Zivilisation zeitigt. Indem sie Natur und Mensch für ihre eigenen Zwecke ausbeutet, indem sie einen oberflächlichen Charme spielen lässt, um andere Kulturen in die Falle zu locken, und indem sie alles, was sie tat, durch eine wortgewandte Geschichte vom Fortschritt rechtfertigt, unterscheidet sich unsere Zivilisation kaum von einem Psychopathen. Auf individueller Ebene haben wir natürlich Mitgefühl mit den Arten, Kulturen und Ökosystemen, die dem Fortschritt und der Entwicklung zum Opfer fallen, aber kollektiv tun wir selten etwas dagegen – so wie mein Freund mit seinen gelegentlichen Gesten einer verdrehten Menschlichkeit. Darüber hinaus betrifft die Frage, wie wir wieder lernen können zu fühlen, uns alle und nicht nur jene, die wir Psychopathen nennen, weil ein jeder von uns auf seine Weise von der gefühlten Verbindung zu Teilen unseres erweiterten Selbst abgeschnitten ist.
Wie es sich trifft, weiß ich ganz bestimmt, dass Psychopathen sich ändern können, weil ich einen kenne, der es getan hat. Damals, als ich an der Universität unterrichtete, kam ein 22-jähriger Student in mein Büro mit einem ziemlich schockierenden Geständnis. Er sagte mir in ruhigem Ton und ohne Anzeichen von Angeberei oder Scham: “Ich bin der größte Kokaindealer in XY. Ich mache wöchentlich einen Gewinn von 10.000 Dollar, und gebe alles wieder aus. Ich trinke jeden Tag Dom Pérignon. Wenn ich abends ausgehe, habe ich immer vier Bodyguards mit. Ich habe gehört, der Staatsanwalt hat eine Akte über mich, aber das ist mir egal.”
“Na, das klingt ja ziemlich gut,” meinte ich, “wo liegt denn das Problem?” Er sagte: “Irgendwie habe ich keine Lust mehr. Es gibt mir nichts mehr. Ich laufe über den Campus und statt Gesichtern sehe ich nur wandelnde Hundertdollarscheine. Jeder von ihnen wird seinem Dealer einen Hundertdollarschein geben, der ihn seinem Verteiler gibt, der ihn mir gibt. Mir verschafft es keinen Kitzel mehr. Ich denke, ich werde meinen Beruf aufgeben müssen.” “Das wird nicht einfach”, gab ich zu bedenken. Einmal in diesen Kreisen ist es fast unmöglich, sie wieder zu verlassen. “Tausend Hände werden dich wieder hineinziehen.”
Es war keine leichte Sache für F. seinen Job zu wechseln. So wie viele Psychopathen war er nicht nur in seiner Gefühllosigkeit außergewöhnlich: Er besaß auch außergewöhnliche Kreativität, Charisma und Einfallsreichtum und hatte keine Geduld gegenüber konventionellen Regeln und Sitten. In fast jedem Job stieß er sich sehr schnell an der Frage: “Was soll ich hier?” Seinen ersten Job hatte er in einer Eisdiele, wo er schnell die Einstellung an den Tag legte: “Schaufel dir doch deine verdammte Eiscreme selber!”. Er bekam einen Job, in dem er Hypotheken verkaufte, brach gleich im ersten Monat alle Verkaufsrekorde und kündigte. Er wurde Fotograf, und obwohl er keine Erfahrung hatte, verdiente er in wenigen Monaten tausende Dollar pro Session – nicht nur wegen seiner Verkaufstüchtigkeit, sondern wegen seiner Fähigkeit, die Leute dazu zu bringen, ihre gewohnten Schutzmechanismen fallen zu lassen. Das reizte sein Interesse ein wenig länger, aber auch hierin sah er bald schon keinen Sinn mehr. Er wollte sich mehr auf den kreativen Ausdruck konzentrieren und war bald von den Arbeiten gelangweilt, die man gewöhnlich macht, um damit viel Geld zu verdienen. Er begann kostenlos zu arbeiten.
In dieser Phase begann F. einen überwältigenden emotionalen und psychologischen Schmerz zu spüren, vor allem, als er sich entschied, das Trinken aufzugeben. Er wurde zu einem Menschen mit nicht nur einer normalen, sondern einer außergewöhnlichen Fähigkeit zu fühlen. Heute verbringt er seine Zeit zu Hause mit seinem kleinen Sohn und spielt mit Fotografie und anderer digitaler Kunst. Ich weiß nicht, worauf er seine erstaunlichen Fähigkeiten noch verwenden wird. Unsere Gesellschaft bietet für Leute wie ihn keine vorgefertigten Positionen. Er musste sich selbst klein machen um hineinzupassen. Wie wäre die Welt, wenn sie sich ausdehnte, um für Menschen wie ihn Platz zu bieten?
Seine Situation ist auch unsere. Die Gesellschaft macht uns künstlich klein, damit wir in ihre Schubladen passen, ein Projekt, bei dem wir zu Mittätern werden. Für Menschen, bei denen das Programm der Verkleinerung nicht gelingt, oder wenn die unterdrückte Energie nicht beherrscht werden kann, hat die Gesellschaft keinen Platz. Es ist unmöglich, in vollem Umfang zu fühlen und dennoch ein funktionierendes Mitglied der normalen Gesellschaft zu sein. Wenn wir zu viel fühlen, wenn wir uns zu sehr um etwas kümmern, und wenn uns die uns zugewiesenen Rollen, mit denen wir die Räder der Maschine am Laufen halten, unerträglich werden – gute Nachricht, denn dies ist genau jene Maschine, mit der wir gerade über die Klippe rasen.
Ich erinnere an den zweiten Grund für “cool” – unsere Erkenntnis, dass alles zugrunde geht, was uns lieb und wichtig ist. Psychopathen haben diese Eigenschaft in großem Maße: Sie sind nicht nur unter Druck übernatürlich cool, sondern auch die zu unserer Kontrolle von der Gesellschaft benutzten Instrumente, die über Belohnung und Scham wirken, lassen sie ziemlich kalt. Viele Aktivisten wären auch gern freier von solchen Beschränkungen, vor allem wenn die Arbeit, die wir tun, soziale Normen verletzt. Frei zu sein von Sorge darüber, was die Leute denken, ist nur einer von vielen wünschenswerten psychopathischen Wesenszügen. Tatsächlich haben Psychopathen viele Eigenschaften, die für gewöhnlich mit spiritueller Meisterschaft in Verbindung gebracht werden, wie Nicht-Anhaftung, die Fähigkeit zu fokussieren, im gegenwärtigen Moment zu sein und Mut. So könnte man sogar die Behauptung aufstellen, dass bestimmte berühmte spirituelle Lehrer Psychopathen waren (Gurdjieff und Chögyam Trungpa kommen einem in den Sinn). Hier ist eine andere Geschichte, aus dem Buch IV von Lieziiii:
Lung Shu sprach zu dem Arzt Wen Chi: “Eure Kunst ist fein. Ich habe ein Leiden, könnt Ihr es heilen?”
Der Artz sagte: “Ich werde tun, was ich kann. Doch nennt mir erst die Zeichen Eurer Krankheit.”
Lung Shu sprach: “Ich fühle mich weder geehrt, wenn mich das ganze Dorf preist, noch schäme ich mich, wenn mich das ganze Land tadelt. Leben wie Tod gilt mir gleich, so auch Reichtum und Armut. Ich sehe die Menschen nicht anders als die Schweine, und dünke mich selbst nicht besser als die anderen. Mein Heim mutet mir wie eine Herberge auf Wanderschaft an, und mein Heimatdorf ist vor meinen Blicken wie ein fremdes Land. Mit dieser Krankheit spornt mich Belohnung nicht an, und Strafen schrecken mich nicht ab. Wohlergehen und Verfall, Gewinn und Schaden können mich nicht ändern; Sorge oder Freude können mich nicht bewegen. Darum kann ich dem Staat nicht dienen, mit Freunden nicht verkehren, kann keinen Haushalt führen oder meine Diener anweisen. Was ist das für eine Krankheit? Gibt es ein Mittel, sie zu heilen?”
Der Arzt ließ nun den Lung Shu mit dem Rücken gegen das Licht stehen und besah sich seine Brust. Nach einer Weile sprach er: “Ei, ich sehe Euer Herz; es ist leer! Ihr seid beinahe ein Heiliger! Sechs Öffnungen Eures Herzens sind offen, nur eine ist verschlossen. Deshalb meint Ihr vielleicht, dass die Klugheit eines Weisen eine Krankheit sei. Gegen sie vermag meine geringe Kunst nichts auszurichten.”
Es ist mehr dran an der Psychopathie als auf den ersten Blick ersichtlich. Wir können sie in unsere Kategorie des Bösen hineinzwängen, aber nur, wenn wir einige ihrer vielen Dimensionen ignorieren. Ein anderes Indiz, das ich nicht erwähnt habe, ist die Tendenz der Psychopaten, mit dem Alter “weicher” zu werden und Einfühlungsvermögen zu entwickeln. Oder könnte es sein, dass, die Geschichte, die ihnen Nervenkitzel verschaffte, uninteressant wird? Diese Möglichkeit ahnte ich auch bei C., meinem psychopathischen Freund, und während ich seinen Einfallsreichtum und Wagemut, mit denen er seine Ziele erreichte, anerkannte und mit ihm darüber lachte, zeigte ich mich unbeeindruckt von den Endresultaten (eine Frau rumgekriegt, eine Person gedemütigt oder ein Geschäft abgeschlossen zu haben), und versuchte ihm damit zu signalisieren: “Es gibt da noch ein größeres Spiel, das du spielen könntest.”
Zwar sind die meisten Menschen nicht so extrem wie C., aber wer von uns würde behaupten, noch nie in einem kleineren Spiel hängen geblieben zu sein, als er spielen könnte; seinen trivialen Belohnungen nachzujagen, die, wenn er sie erreichte, dieses Gefühl zurücklassen: “Na und?” Psychopathen oder nicht, die Gewinner des Spiels unserer Gesellschaft sind doch selbst die am meisten Betrogenen.
Vor einer oder zwei Generationen war die Erde noch nicht so geschunden, und wir hatten eine Geschichte vom Aufstieg – Fortschritt und Unterwerfung – die vieles vom vorhandenen Schmerz absorbierte, wovon es auch damals schon eine Menge gab. Heute gerät die Geschichte von der Technologie, die das Leben auf Erden immer besser macht, ins Stocken, und der Schmerz wächst über all unsere Versuche hinaus, ihn zu leugnen. Für eine Weile finden wir Zerstreuung, irgendeinen irrelevanten Schauplatz, wo wir fühlen können. Sportspektakel, Actionfilme, Fanatasyromane, Klatschspalten und die verschiedenen herzzerreißenden Tragödien, mit denen uns die Medien regelmäßig versorgen. Das alles erlaubt uns, unsere Gefühle auszuleben und dann mit dem Leben fortzufahren, als wäre es normal.
Aber irgendwann werden uns diese Trivialitäten egal, und wir stellen fest, dass die Tragödien auch bloß die sichtbarsten Auswüchse einer tiefer liegenden Quelle der Störung sind. Das Leben hat keinen Sinn mehr. Wir fragen uns, so wie mein Student F. bei der Hypothekenfirma, was das alles soll. Wir schleppen uns weiter, vielleicht zum Job oder zur Schule aus Angst vor finanzieller Not, aber an irgendeinem Punkt kann uns nicht einmal die weiter antreiben. Der nächste Schritt ist Medikation: Antidepressiva, um uns unempfindlich gegen den Schmerz zu machen; Anxiolytika, um das Gefühl zu bändigen, dass irgendwas schrecklich falsch läuft; Aufputschmittel, um uns dazu zu zwingen uns auf Dinge zu konzentrieren, die uns eigentlich egal sind. Aber all das treibt die Lebenskraft bloß tiefer und tiefer unter die Oberfläche. Dort staut sie sich und bricht irgendwann als Krebs aus, wendet sich als Autoimmunerkrankung gegen den eigenen Körper, oder sie explodiert nach außen in Form von Gewalt. Kein Wunder, dass bei nahezu allen Schulmassakern in den letzten zwei Jahrzehnten psychiatrische Medikation eine Rolle spielte.
Stellen Sie sich vor, was diese Welt sein könnte, wenn wir diese enorme angestaute Lebenskraft auf etwas verwenden könnten, das uns wichtig ist. Sicher, die meisten Leute haben auf der persönlichen Ebene Zugang zu solchen Dingen, die ihnen wichtig sind. Es gilt Säuglinge im Arm zu halten, gibt Schultern zum Ausweinen und Gärten zu bepflanzen. Unsere Geschichte von der Welt und ihre Systeme drängen diese einfachen Formen der Hingabe oft an die gehetzten Ränder des Lebens. Außerdem brauchen wir auch mehr als bloß diese Dinge, zumindest in bestimmten Phasen des Lebens. Deshalb sind wir, und vor allem die jungen Leute, hungrig nach Lebenssinn. Wie F. wünschen wir uns, dass uns etwas wichtig ist. Wir wollen die Schleusen unseres Herzens öffnen. Solche Dinge wie “Polio in Afrika auszurotten” oder “Freiheit im Internet” mögen für eine Zeit den Zweck erfüllen, aber irgendwann werden sie aufhören uns anzuregen. Die Schleusentore schließen sich wieder, vielleicht durch ein Burn-Out, oder weil unser Mitgefühl ermüdet. Für manche von uns kann keines dieser Anliegen für sich genommen die Langeweile, das Mir-doch-egal oder das Coolsein durchbrechen. Wir müssen sehen können, welcher größeren Sache wir dienen. Wir brauchen eine Geschichte von der Welt, die uns wirklich was angeht.
i Ein gutes Beispiel ist das Vorkommen von Psychopathen in prämodernen Gesellschaften. Psychopathie war in diesen Gesellschaften viel seltener, was vielleicht den niedrigeren Grad an Separation in diesen Kulturen widerspiegelt. Aber sie war nicht ganz unbekannt, was manche darauf zurückführen, dass jede Gesellschaft, die sesshaft wurde oder auch nur eine symbolische Kultur (Sprache) entwickelte, schon auf dem Weg in die Separation ist. (Siehe zum Beispiel “Elements of Refusal” von John Zerzan.)
ii Siehe zum Beispiel “Emotional Capacities and Sensitivity in Psychopaths” von Willem H. J. Martens, MD, PhD.
iii dt.: Liezi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund